Editiert 12. Juli 2020, Buch Panic durch Existenz ersetzt. weitere Infos zum Buch, das als Buchfund am 13. April im Irgendlink-Blog erwähnung findet.
21. April. Ein Tag im Zelt. Mit PANIC DIE EXISTENZ.
Welches ist eigentlich der bedeutendste Tag im Zelt, den ich je verbracht habe? Turmuhren ringsum schlagen schon zwölf, als ich am gestrigen Tag endlich in die Gänge komme. Packen oder nicht packen? Packen und losradeln oder nicht packen und nicht losradeln? Kipppunkte des Vorankommens, die – im Nachhinein – oft so faszinierend sind.
Island 1992. Ein Campingplatz in kargem Land. Ein Sturm. Eine Art Aufenthaltshütte … nein, das war gar kein Tag im Zelt. Es war ein Tag in der Aufenthaltsspelunke des Campingplatzes, lungernd, dem Sturm zuhörend. Immer wenn jemand die Hütte verließ oder betrat, musste jemand anderes ihm zu Hilfe kommen, um die Türe wieder zu schließen, weil der Sturm so sehr daran zerrte. Ein Tag mit bangem Blick aufs Zelt, das im Sturm dahinzauste, während man in der Hütte zwischen klappernden Brettern, eingehüllt in die Schlafsäcke, auf einem wilden Mix an Sperrmüllstühlen neben Sperrmülltischen kollektiv wartete, bis die Luftdruckgebiete für Ausgleich gesorgt hatten. Kein so starker Sturm, beteuerte der Platzwart, aber es sei kein Fehler, ihn hier drinnen abzuwarten. Unser Zelt war eines der Wenigen, das von der Zerstörung verschont blieb, obschon das Alugestänge etwas verbogen war.
Baskenland. Jetzt. Da es kontinuierlich nieselt, habe ich keine Eile, das Zelt zusammen zu packen, koche Kaffee, liege im Schlafsack, toaste Baguette. Immer wenn der Trangia im Vorzelt brutzelt, wird es in dem kleinen stoffenen Alkoven brutal heiß, Schwitzhüttenflair, und die Zeltplane trocknet von Innen, während sie von Außen benetzt wird. Ich krame das Buch heraus, das ich im Hotel in Escatron hatte mitgehen lassen: ‚PANIC‘. Von Marc T. Sullivan. Untertitel: ‚Der Schuss. Das Blut. Der Tod.‘ EXISTENZ von Lind Kernig. Ein Zukunftsroman der Feinen Künste.
Plötzlich, eine ganz andere Welt. Mit der Ich-erzählenden Protagonistin sitze ich in einem kleinen Wasserflugzeug über den Wäldern Nordamerikas. Hightech-Jagdklamotten am Leib, und einen Sack mit Langwaffen dabei und noch ein paar andere Menschen, die sich für teuer Geld eingemietet haben für ein zwei Wochen, um weit draußen, ausgesetzt und abgeschnitten von der Zivilisation auf die Pirsch nach Hirschen zu gehen. DEN Soundsovielender zu schießen ist mein Ziel. Es soll aber alles ganz anders kommen, verspricht das Buch.
Wenn du im Zelt sitzt, trennt dich nur das Gewebe der Zeltplane von der Außenwelt, aber es ist möglich, auf den zwei, drei Quadratmetern, in der kaum einen Meter hohen Kuppel liegend, einen ganzen Tag zu verbringen, mehr noch, die zerrende, nieselberegnende Welt da draußen auszublenden, gar sie gänzlich zu vergessen und in die Welt eines Buches einzutauchen. Wie Leben auf einer Mondstation und die Zeltülane fungiert als hauchdünne über 300.000 Kilometer lange Distanz, die dich von der echten Welt und ihren echten Abenteuern trennt.
Der Tag am Loire-Stausee von Villerest, ebenso vernieselt wie dieser: War das mein ultimativer, prägendster Tag im Zelt? Ich weiß noch, das Zelt stand unter einer jungen Eiche und ich las ein Buch. Jack Kerouacs ‚Unterwegs‘? Erich Fromms ‚Haben und Sein‘? Beides im Wechsel? Da ich mich nicht mehr erinnere, was im Innern des Zelts im Jahr 2000 passierte, was ich las, wohin ich abtauchte, welche innere Welt ich im Tausch gegen die scheinbar so gruselige äußere Welt jenseits der Zeltplane installierte, kann es eigentlich nicht der ultimative, prägendste Tag im Zelt gewesen sein, den ich in meiner Europenner-Karriere je verbracht hatte.
Williamstown Harbour vielleicht? Irland 1996. Zusammen mit Freund QQlka? Es wollte und wollte nicht aufhören zu regnen und wir lungerten in seinem ziemlich komfortablen großen Zelt für zwei bis drei Personen. Kaffee, Cheddarkäse, Marmeladentoast und der ‚Dritte Polizist‘ von Flann O’Brian, den wir uns gegenseitig vorlasen. Köstlich. Der Tag verging unterm Plätschern und dem ab und zuen Murmeln von Anglern, die in der Nähe unter riesigen Camouflage-Schirmen die Ruten auswarfen, um SOLCHE Fische zu fangen.
Fast wie in Existenz. Panic. Es ist die Jagd. Es ist die Suche, die Sehnsucht, der Griff nach scheinbar Unerreichbarem. Das Abenteuer. Das Vorankommen. Allesamt forsche Tätigkeiten, die im Gegenpol mit den eher passiven, zur Untätigkeit verdammenden Tätigkeiten rangeln. Oder tanzen?
Was ist das Leben anderes als ein Warten zwischen Momenten, in denen Warten nicht möglich ist und beides steht gleichwertig nebeneinander wie die Realitäten diesseits und jenseits deiner Zeltplane! Es gibt kein absolutes So-ist-es-richtig. Ja, so vermute ich, oft ist es auch das Gegenteil dessen, was man für richtig und gerade an der Zeit seiende, zu durchleben hält, das richtig ist. Ein in sich geschlossenes System aus Gegenpolen, die einander erst ermöglichen. Ohne den Aufenthalt im Zelt für eine unbestimmte Zeit, gibt es kein Weiterradeln (keine Welt da draußen 12.07.2020), wird mir klar.
Vier Uhr. Die umliegenden Kirchturmuhren lullen mich in ihren Kanon. Wie sehr habe ich dieses typisch französische Turmuhrschlagen vermisst. Immer zwei Mal zur vollen Stunde sagen die Turmuhren dir die Zeit. Holen dich raus aus deiner Traumwelt jenseits der Zeltplane.
Welches der nachhaltigste Tag im Zelt war? Rein literarisch? Hamsuns Hunger wäre noch zu nennen, gelesen zwar nicht im Zelt, aber in einer unendlich schäbigen Bruchbude in Santiago de Teneriffa, einen Tag Sturm abwartend.
Panic im Hier und Jetzt des Baskenlands gibt nicht allzuviel her. Es ist ein leichtköstiger Roman, aber er liest sich ganz gut. Die Existenz im Hier und Jetzt des Baskenlands hat das Zeug, mich in die Krise zu stürzen. Dennoch kann ich nicht aufhören, zu lesen. Die Existenz ist ein verwirrendes Buch. Ein großer Zweifel an Realität. Es macht Angst. Angst verrückt zu werden, denn nichts ist wie es scheint. Ich bin trotzdem froh, dass ich das Buch im Hotel in Escatron habe mitgehen lassen. Sonst säße ich vermutlich jetzt im Sattel irgendwo regenradelnd, von Wind und Salz durchdrungen.
Was im Prinzip auch nicht schlecht wäre.
Und die Antwort auf die Frage nach dem bedeutendsten Tag, den man im Zelt verbringt? Es ist immer der Jetzige!