Manchmal wäre ich ja gerne der kleine Zauberkünstler, der einen Blogartikel nach dem anderen ganz hasengleich aus seinem Hut zaubert. Einfach immer so weiter machen. Reisen und bloggen und reisen und bloggen und reisen und bloggen … bis zum Sankt Nimmerleinstag. Den Rhythmus halten und eine ausgewogene Mischung zwischen körperlicher Aktivität und geistiger Anstrengung – das täglich erlebte in Worte zu fassen – das wäre meine Kunst. Das wäre der große Trick, mit dem ich die Zuschauenden verblüffen würde. Spielt keine Rolle, ob sich ein doppelter Boden in dem Hut befindet oder ob mein Kaninchen, das ich an den Ohren heraus ziehe echt ist oder nicht. Es reicht, es zu zeigen, zu ‚ver’zaubern sprichwörtlich.
Die Illusion zu erschaffen ist manchmal nur eine Frage der Disziplin. Wenn man es versteht, die Beobachtenden daran zu hindern, Fragen zu stellen und ihnen einfach nur eine Freude bereitet in trister Umgebung, hat man das Ziel des Verzauberns schon fast erreicht.
So liege ich morgens im Zelt am gestrigen Tag 35 der Reise von Zweibrücken nach Andorra und darüber hinaus. Die Luft schmeckt salzig. Erstmals seit Reisebeginn dimmelt Niesel aufs Zeltdach, lullt mich das Geräusch des Regens wieder und wieder ein und es schlägt sechs Uhr. Auf einem der Nachbarhöfe kräht ein Hahn und ich dämmere wieder weg und es wird sieben Uhr. Erneute Realitätsfetzen. Reißverschluss am Schlafsack auf. Ein milder Morgen. Wind zerrt an der Zeltplane. Der Atlantik ist nah. Der Atlantik ist wunderbar. Das Klima ist endlich wie ich es gerne habe. Kühl und feucht und nicht zu kühl und nicht zu feucht. Ich dämmere wieder weg und die Turmuhr der Kirche querab schlägt neun und fünf Minuten später schlägt sie noch einmal neun, wie üblich in Frankreich. Aber bin ich tatsächlich in Frankreich? Oder ist das Baskenland, diesseits und jenseits der scheinbar willkürlich gezogenen Grenze zwischen Spanien und Frankreich sein eigener Mikrokosmos, sein eigener Staat? Ja, schon. Die Sprache ist anders. Sehr anders. Alle Ortsschilder sind zweisprachig angeschrieben.
Die baskische Sprache ist außergewöhnlich. Man bezeichnet sie als eine isolierte Sprache. Sie hat keine Verwandtschaft mit auch nur irgend einer anderen Sprache weit und breit. Meine latenten Lateinkenntnisse, die es mir bisher ermöglichten, in Frankreich, Katalanien, Aragón und Navarra mich irgendwie radebrechend durchzuschlagen, laufen hier ins Nichts. Wenn ein Mensch sich nicht erbarmt, mit mir englisch, französisch oder notfalls auch spanisch zu reden, gibt es keine Verständigung. Nie war ich fremder. Die meisten Basken leben im spanischen Teil, südlich der Pyrenäen, aber auch hier, nördlich des Col d’Ibradin sprechen etwa 50.000 Menschen baskisch. Man lebt es auf Plakaten und offiziellen Schildern (klar, auch hier herrscht der Krieg wie an der Grenze zwischen Katalanien und Aragonien. Man streicht die jeweils fremde Sprache per Kraft von Spraydosen durch, die Gewalt des Graffities und schreibt das jeweilige Wort auf französisch – oder umgekehrt, man ixt das Französische und sprayt trotzig das baskische Wort; je nachdem).
Morgenkaffee und Cleansweep im Zelt. Ich habe alle Packtaschen ausgeräumt und sehe nach den Lebensmitteln. Inventur. Eine verdorbene Zwiebel kommt in die Mülltüte, die man mir an der Rezeption gegeben hat. Gibt es hier etwa ein ähnliches Entsorgungskonzept wie in der Schweiz? Bedruckte, offizielle Tüten, die man in den Container werfen muss und wenn eine falsche Tüte darinnen ist, wird sie herausgeklaubt und, mit einem kommentierenden Zettel versehen, daneben gestellt? Entsorge deinen Müll ordnungsgemäß, Greenhorn? Ich werde es nicht erfahren, denn der Aufdruck ist baskisch. Mit vielen hintereinander geschriebenen X und Z usw. Vielleicht ist es einfach nur Werbung für einen Zaubereibedarfshandel. Jedenfalls ist ein Hase und ein Zylinderhut neben dem Text abgebildet.
Zehn Uhr. Kaffee Nummer drei kocht. Ich werde heute hier bleiben, habe ich beschlossen. Zweibrücken-Andorra mit seinem Kriegsanhängsel den Flüssen folgend via Belchíte und die Strecke der tausend Tunnel auf der Via Verde del Plazaola bis hierher erkläre ich nun offiziell als beendet. Der Wurmfortsatz der feinen Künste. Gut sechshundert Kilometer durch wüste, karge Gegenden, auf den Spuren antiker Bewässerungssysteme unter den wuchtigen Mauern alter Castillo-Ruinen und neuzeitlicher Forts mündeten auf der kleinen Fähre über die Bucht von Chingoudy retour à la France. Nein, nein, nein, schreibs baskisch: Txingudy, nicht Chingoudy.
Doktor Irgend oder wie ich lernte das X hinter Konsonanten zxu lieben.
Schlag zehn, schlag elf, schlag zwölf. Die Zeit vergeht schreibend am Artikel des vorgestrigen Tags, des letzten Tags ‚Zwand20‘ (Link einfügen).
Nach zahlreichen Kaffee fällt mir die Zeltplane auf den Kopf und ich schwinge mich aufs (erstmals seit sieben Wochen) unbepackte Radel. Wow. Gakelig. Alles wackelt und es fährt sich gar nicht mal so viel leichter wie mit Gepäck. Es gibt aber auch keine Wuchtmasse, die die Impulse kontrollieren würde. Über die D 4 und die D 404 radele ich bergauf, nicht sehr steil, aber in einem stetigen Strom von Kleinwagen und Motorrädern, nur knapp 20 Kilometer zurück bis zur Grenze. Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Vielleicht, um einen würdigen Pyrenäenabschluss zu finden, denn die schaukelige Tour mit der kleinen Touristenbarke über die Bucht schien mir doch ein bisschen eine Mogelpackung. Ich meine, es ist ja kaum zwei Wochen her, dass ich mir auf der 2400 Meter hohen Porte d’Envalira das volle Programm der Pyrenäenüberquerung gegeben hatte, japsend nach Sauerstoff in luftigem Gebirg. Da sollte es doch auf dem Weg zurück mindestens dieser kleine – ja, was ist das? – ein Dreihunderter sein. Vier Kilometer klettern. Nur ein Zehntel der Strecke ab Ax nach Pas de la Casa, ha! Keine Sechs Prozent Steigung. Am Grenzübergang zu Spanien ist die Passhöhe bei 317 Metern erreicht. Der erhoffte Blick auf den Atlantik bleibt mir leider verwehrt. Zu viele Wolken und ich bin mir auch nicht sicher, ob es überhaupt möglich ist, vom Col d’Ibardin den Atlantik zu sehen. Berge mit seltsam klingenden Namen wie der Xoldoko gaina und der Oneaga und der Mokoa schieben sich vor die Kulisse. Die hängt in fetten trüben Regenwolken.
Und das Dorf hier oben am Pass tut sein Übriges, um den Atlantikbetrachtungswilligen von seinem Vorhaben abzulenken: Im Prinzip handelt es sich beim Col d’Ibardin um eine Sackgasse, die genau auf der Grenze abzweigt von der Passstraße zwischen Neu Aquetanien (Frankreich) und Navarra (Spanien). Daran reihen sich wie die Noppen eines Reißverschlusses zahlreiche Geschäfte, sogenannte Ventas. also irgendwie eine Art Niemandsland der Zollfreiheit. Dementsprechend ist das Angebot auf ein ganz spezielles Touristenklientel zugeschnitten. Tabak, Kaffee, Luxuszeugs usw. Nichts was man essen könnte oder was der normale, tourenradelnde Europenner, moi même, brauchen könnte. Es ist nicht so einfach, eine Zwiebel zu kaufen am Col d’Ibardin, einen Apfel oder eine Flasche Milch. Die Läden auf der einen Straßenseite werden flankiert von Restaurants und Imbisbuden, Tapasbars und einem riesigen Parkplatz auf der anderen Seite der Grenze. Wobei sich kaum erschließt, welches Haus nach Frankreich gehört und welches nach Spanien. Die Straßenmitte scheint mir jedenfalls nicht unbedingt die Grenze zu sein. Gut möglich, dass die mitten durch ein Regal voller stangenweise Zigaretten läuft. Oder im Zick Zack. Vielleicht handelt es sich beim Phänomen des Col d’Ibardin auch um einen gigantischen, konsumatorischen Reißverschluss. The Great Baskian Zip?
Ich weiß es nicht. Fasziniert beobachte ich das Ein und Aus der Kauftouristen, die sich von beiderseits der Grenze hier heraufbewegen per Auto oder Motorrad, sich grüppchenweise in die Läden ergießen, mit Tüten voller Zeugs herauskommen, die Kofferräume beladen, in die Bars und Tapasbuden strömen. Wie Wurstmasse in gigantischer Fabrik und abends, in Folie gepresst zurückehren in ihre Heimatorte.
Ich kaufe nichts dergleichen. Ich brauche nichts von alldem. Die Inventur im Zelt hatte ergeben, dass das Abendessen gesichert ist mit einem einfachen Reiseessen, Zucchini, Zwiebel, Tomate an Couscous und zum Nachtisch eine halbe Flasche Wein und ein Stück Luftschokolade.
Nach einem letzten Blick gen Süden nehme ich Abschied von Spanien und von den Pyrenäen, lasse das Radel abwärts rauschen. Kaum einer überholt mich, so schnell geht es durch die kurvenreiche Strecke. So erreiche ich den Campingplatz gerade als die ersten Tropfen des vorhergesagten Dauerregens niedergehen, krieche ins Zelt, die Zona de Descanza des kleinen Mannes, und lasse die letzten sieben Reisewochen in den Träumen der Nacht versickern.
Die Tour ist tot. Es lebe die Tour. #zwand20 geht. #radlantix kommt.
Einquartiert auf dem Campingplatz Aire-Ona. Fehlende Links in diesem Artikel werden noch gesetzt, sobald die betreffenden Artikel fertig sind.