Im Humidor der Feinen Künste | #radlantix

Ein Humidor (lateinisch humidus ‚feucht‘), Mehrzahl Humidore, ist ein aus Holz oder anderen Materialien gefertigter Behälter, in dem Künstler gelagert werden. Die Größe von Humidoren reicht vom handlichen Reisehumidor über kleinere Kisten, Kommoden und Schränke bis zum großen, begehbaren Humidor (Klimaraum) in vollbepackten Reisefahrrädern.

Nein, ich werde mich nicht beschweren. Nicht über Regen. Nie wieder! Nach einem Telefonat mit Daheim zeichnet sich ein düsteres Bild des Gartens, ein rissiges Etwas von Erde, in dem so gut wie nichts gedeihen will. Die Regenfässer sind fast leer. Man kann von Glück reden, dass das Wasser überhaupt bis jetzt noch reicht. Ich hatte aus einem Gefühl heraus schon Mitte Januar alle Regenfässer am Hof gefüllt. Ahnend, dass der Frost in diesem Winter ausbleiben würde und somit auch keine Gefahr bestünde, dass das Wasser einfriert.

Die scheinbar so ergiebigen Regenfälle im Januar und Februar waren allerdings nicht so ergiebig wie erhofft, beziehungsweise, sie reichten nicht aus, um die seit zwei drei Jahren sich einschleichende Dürre in der Westpfalz auszugleichen. Im Februar hatte sich unterhalb des Gartens am einsamen Gehöft ein kleiner See in einer Mulde gebildet, was Hoffnung machte. Über Tage rann ein kleiner Bach aus dem Einzugsgebiet, dem etwa zwei Hektar großen Acker oberhalb des Hofs und speiste den See. Doch schon zwei Wochen, nachdem der Regen aufgehört hatte, war der Boden wieder trocken und rissig. Über die Jahre ausgedorrt. Das Gleichgewicht, das man in den letzten zwei Dekaden vor Ort in der Pfalz hatte und dem man als Gartenbauer vertrauen konnte, das gibt es nicht mehr.

Camping Aire Ona, Urrugne, französisches Baskenland. Scherzend mit mir selbst, taufe ich den kleinen Camping à la Ferme Airbase One. Noch vor der Morgendämmerung bin ich wach am gestrigen Tag. Niesel aufs Zeltdach, Reißverschluss auf, Richtung Zaun tappend, um die Blase zu erleichtern, latsche ich durch eine riesige Pfütze, die sich im Dauerregen des Vortags gebildet hat. Nein, du wirst nicht fluchen, Herr Irgendlink. Nein! Demütig nimmst du das humide Dasein an, denk an zu Hause, Risse im Boden, Staub allüberall … sagen wir es einmal so, es gab üblere Tagesbeginne auf dieser meiner Odyssée. Der Niesel ist ein guter Fahrregen. Ich koche Kaffee im Vorzelt, toaste das alte Baguette, das ich auf dem Col d’Ibardin vor zwei Tagen gekauft hatte. Dazu zwei Spiegeleier und eine Scheibe Saucisson Sec. Gegen neun Uhr im Sattel. Zelt nass zerknäult auf dem Gepäckträger. Ich werde es tagsüber irgendwann trocknen. Wie von der App versprochen kommt mittags die Sonne raus. Runter zum Atlantik. Ran an die Vélodyssée. Die Atlantik-Radroute Eurovelo 1 (EV1). Der französische Abschnitt heißt Vélodyssée. Gut 1200 Kilometer relativ gut beschilderter Radwege, meist auf eigenen Trassen und abseits der Straße.

Schon 2017 hatte ich angepeilt, diese Reise anzugehen und dafür dieses Blog, Radlantix, angelegt. Die ursprünglich angedachte Route hätte von zu Hause quer durch Frankreich über Paris in die Bretagne geführt, eventuell ein kleiner Abstecher auf die Insel Jersey und hinüber nach England, um kurz das Feeling von North Sea Cycle Route zu reaktivieren et voilà, retour à la France immer den Vélodyssée-Schildern folgend. So weit der Plan. Warum kam es nicht dazu? Ich hab’s vergessen, verdrängt den Tod des Vaters 2017 … Himmel, fast auf den Tag genau ist das jetzt schon drei Jahre her.

Nicht abschweifen, Herr Irgendlink, konzentriere dich aufs Jetzt. Auf’s Leben und nicht den Tod, auf’s Glück und nicht den Schmerz, auf’s Hier, auf die Straße. Es gibt nur noch das Graue Band, das niemals endet.

Runter nach Hendaye zurück zur Strandpromenade, vorbei am großen Campingstrich. Rechts und links aller Wege liegen unzählige Campingplätze und verlocken Urlauberinnen und Urlauber. Nordwärts raus aus Hendaye immer der Straße nach, aber immerhin auf einem eigenen Radweg. Sagen wir es einmal so: schöner Radweg geht anders. Die Notlösung direkt neben dem Gehweg entlang der D 912 holpernd, an jeder Kreuzung über Bordsteine, seien sie auch noch so schrägbordig, macht keinen Spaß. Der Touriverkehr atlantiklechzender Schönmenschen tut sein Übriges. Benzingestank und Geschäftigkeit. Fast sehne ich mich zurück auf die Airbase One, mein Basislager unterhalb des Col d’Ibardin. Die Ruhe. Die Wiese. Die Pfütze und mein Humidor namens Europennerzelt.

Hinter Saint Jean de Luz bessert sich die Radwegelage etwas, folgt die Vélodyssée ruhigeren Straßen und ab und an auch mitten durch die Natur auf feinen, kleinen, eigenen Trassen abseits des Motorisierten. Durch Guéthàry und Biarritz: Strandpromendandenspießrutenläufte. Und hinein nach Bayonne, immer den Vélodyssée-Schildern folgend. Am Bahnhof in Bayonne werden Erinnerungen an den Umstieg nach Saint Jean wach. November 2010. Dauerregen, der Fluss bei Hochwasser und eine Stunde rumtrödeln mit schwerem Pilgerrucksack in der Stadt.

Der Fluss heißt übrigens Adour, beziehungsweise Aturri auf baskisch. Nach zehn Jahren habe ich endlich Zeit, seinen Namen zu lernen. Heuer hat der Aturri Niedrigwasser, was vielleicht auch daran liegt, dass Ebbe ist. Ein faszinierendes Wesen von Fluss, wie auch die gesamte Gegend, stelle ich fest. Nicht immer mündete der Adour hier bei Bayonne ins Meer. Mehrfach änderte er seine Mündungsposition, und zwar um etliche zig Kilometer. Das Meer und die Sanddünenhaftigkeit der Gegend sind daran schuld. Und auch der Mensch legte einst Hand an, um den Fluss zu bändigen.

Wie auch immer, irgendwie bin ich froh darum, dass dieser Fluss mit seiner Wandermündung einmal eine weniger bedenkliche Geschichte bereit hält als der Rio Seguro und der Ebro (siehe Irgendlink-Blog).

Jenseits von Bayonne wird die Vélodyssée endlich zu einer Radroute nach meinem Geschmack. Kilometerweit solo ohne Straßenlärm schlängelt sich der Weg durch lichten Wald. So radele ich in den Abend, fast 90 Kilometer auf dem Tacho, vorbei an einem Tierpark, und klugerweise abseits des Strandes mit seinen überteuerten Touristencampings nach einem Plätzchen suchend. Gerade rechtzeitig vor Dunkelheit auf einem Farmcamping  in Labenne eingecheckt. Herzig, einfach, nicht neu, aber sehr sauber und mit 13 Euro schon geradezu unschlagbar günstig. Ich bin der einzige Radler auf dem Platz. Nur noch wenige andere Gäste. Ein belgisches Paar im Wohnmobil, eine französische Familie und ein zotteliger alter Hofhund namens Lottí sind meine einzigen Mitbewohner.