Wieder muss ich Finger zählen. Nein, sogar Zehen. Dienstags bin ich gestartet vor über sieben Wochen. Den beiden Zweibrücken-Andorras folgend quer durch Frankreich bis jenseits der Pyrenäen. Kurzer Ausflug in den spanischen Bürgerkrieg nach Belchíte und wieder nordwärts. Das sind alleine schon sieben Zehen für die unterwegsen Wochen und ein paar Finger für ein paar Tage plus. Am Atlantik begann die achte Woche, letzten Dienstag, Daumen links: Tag 36. Linker Zeigefinger, Mittwoch … und gestern war der Mittelfinger dran, Donnerstag, Tag 38.
Heute bricht also schon der Ringfingertag der achten Woche an. Alles klar?
Egal. Die Zeit verliert sich. Ich halte sie sowieso für ein zweischneidiges menschliches Konstrukt, wie auch Geld und die Festlegung auf Wertesysteme generell. Fluch und Segen zugleich. Einerseits sind derlei Systeme wichtig für das Zusammenleben. Sie ermöglichen die Verrechnung von Waren und Dienstleistungen, das Festschreiben von Schuld, von Debit und Credit.
Die Einigung auf einheitliche Zeit macht Transport und dessen Terminierung erst möglich. Eine zunächst europaweit, dann weltweit einheitliche Zeit setzte sich erst durch, als der Mensch schnelle und große Räume übermessende Transportsysteme entwickelte. Die Eisenbahn, Motor der einheitlichen Zeit. Zu Vor-Postkutschenzeiten herrschte ein heiles Zeitenchaos. Drei Minuten vor Zwölf hier, sieben Minuten nach Acht da. Die genaue Zeit über lange Strecken zu behalten war eine Wissenschaft in der Prä-Escapardistischen Zeit. Der Zeit, in der der Mensch noch nicht gewohnt war, das Land zu verlassen.
Nördlich von Mimizan irgendwo im Wald. Wo ist der Gestank, den man mir versprochen hat? In einer Artikelserie in der Welt in der Rubrik ‚Orte zum Abgewöhnen‘ war auch ein Bericht über Mimizan. Strandappartement, Sommer, Sonne, Fenster auf. Gestank, Kotz, Fenster zu, Baguette und Orangenmarmelade und Saucisson Sec im feinen kleinen Ferienappartement statt auf dem Balkon mit Blick aufs Meer. Eine ganz klare ‚Fahr da nie hin‘-Empfehlung, allerdings aus dem Jahr 2011. Der Autor war als Kind mit den Eltern in Mimizan und machte die beschriebene traumatische olfaktorische Erfahrung, deren Ursache eine Papierfabrik im Ort sei. 2011 kehrte er zurück, immerhin waren über zehn Jahre ins Land gegangen, vielleicht habe sich etwas gebessert. Nein, hatte es nicht. Deshalb der Artikel. Nun sind schon wieder fast zehn Jahre vergangen und das Schicksal hat mich nach Mimizan verschlagen. Beigemengt im Hinterstübchen der Gedanke an den uralten Artikel, den ich im Internet gefunden hatte. Entsprechend dominiert die Information den gestrigen Tag … naja, dominieren ist falsch gesagt, aber eben, sagen wir es einmal so, die Information über den Ort zum Niewiederhinfahren liegt in meinen Hirnwindungen wie ein Geruch, den man eine Weile in seiner Kleidung mitschleppt.
Die Vélodyssée ist eine anständig gemachte Radroute, muss ich sagen. Die Beschilderung ist okay, nicht lückenlos, aber mit dem Track auf dem Handy und den Schildern und dem Wissen um das Geheimnis des Sonnenstands komme ich ganz gut voran. Nach Norden radelnd, steht die Sonne meist irgendwo rechts oder im Rücken (es sei denn, man steht früh auf :-).
Die Strecke? Führt durch meist flache, sanddünige Gegenden mit seichtem Kiefernbewuchs, gespickt mit frühlinghaften Feldern, garniert mit kleinen Dörfern und Städten. Deren Umgebungen: Miniindustrien und pulsierende Gewerbegebiete. Ein Rangeln der großen Supermärkte herrscht in den von Autos dominierten Randgebieten: Intermarché versus Super U, gespickt mit Auchan und ab und zu ein kleiner Match. Ich bevorzuge die kleinen Märkte in den Innenstädten. Nicht zuletzt, weil ich das vollbepackte Reiseradel nicht gerne auf einem riesigen, anonymen Parkplatz unbeaufsichtigt stehen lasse.
Was kann ich über die vergangenen etwa siebzig Kilometer sagen? Geprägt ist das Land, wenn man einmal den Menschen außen vor lässt, vom Kampf der Flüsse mit Sand und Meer. Ich fand das schon vorgestern ziemlich faszinierend, dass der Arturri bei Bayonne über die Jahrhunderte eine Art Wandermündung in den Atlantik hatte. Und zwar auf etlichen zig Kilometern nord-südwärts. Alles fließt. Alles ist in Bewegung. Die Luft, der Sand, der angebliche Gestank, die Flüsse, der Regen, die Landschaft. Fast komme ich mir vor wie in einem verrückten Van Gogh Gemälde, Grundfarben gelblich, vermengt mit Ocker und dunklem Grün, zieselige Kiefernstacheln befinden sich im Gerangel mit dem Gestrüpp einzelner Brachen und die klaren Linien, die die von Menschen gemachten Gebäude, Lagerhallen, Kornspeicher, Bahnanlagen, was weiß ich was noch alles, beisteuern, werden durch die Zieseligkeit der Natur in Unruhe gebracht, lösen sich, aller Strenge zum Trotz, die man ihnen per Bauplan aufbürdete, auf, und tanzen im Zittern der feinen Natur.
Das Land der großen Courants, der Ströme und der gebändigten Sümpfe und Dünen ist das. Nicht sehr weit befindet sich die höchste Sanddüne Europas, die Dune de Pilat beim Städtchen Arcachon. Über hundert Meter hoch. Eigentlich mein Tagesziel. Aber ich bin müde. Der Nordwester, so nenne ich den Wind, der mich bremst, zerrt an den Nerven. Immer wieder nötigt mich seine unsichtbare Kraft zu Pausen in windgeschützten Ecken. Dann schmatze ich ein Stück Käse und ein bisschen Baguette, luge nach ein paar Minuten um die Ecke meines Windschutzes, nein, er ist noch da. Er wird niemals gehen. Trotzdem komme ich voran. So ist das beim Radeln. Man kommt immer irgendwie voran, auch wenn man denkt, man steht still. Es ist fast alles eine Kopfsache. Du kannst Dir die Wände deiner kleinen Klause der Vélomobilität schön bunt mit Bildern behängen oder aber auch sie in eine triste Zelle verwandeln. Alles nur eine Frage der inneren Einstellung. Wenn Du mit einem Bericht über Gestank in Sinnen auf einen Ort zufährst, wird der Ort so lange stinken, bis du ihn erreichst und selbst nachriechst, ob es dort stinkt. Stinkt es tatsächlich, dann stinkt es, stinkt es aber nicht, dann hast du in deiner Phantasie zwanzig, dreißig vierzig Kilometer im imaginären Gestank absolviert.
Die Lagersuche wird ein bisschen kniffelig. Die Gegend ist aus rein europennerianischer Sicht etwas kompliziert. Typen wie mich gibt es nämlich offiziell gar nicht in den Verrechnungssystemen der Touristenhochburgen. Das musste ich schon am ersten Tag in Hendaye feststellen (Link einfügen, wenn der Artikel fertig ist). Computer sagt naiiin (Anspielung Little Brittain), wenn man dich eincheckt. Nein, wir haben keinen normalpreisigen Platz für zehn, fünfzehn, zwanzig Euro für dich Alleinreisenden mit dem winzigen Zelt. Das einzige, was wir bieten können, ist Kategorie C – Emplacement sans Electricitée – 27 Euro plus Kurtaxe, Jetons für die Duschen kosten extra. So klappere ich zwei Zeltplätze ab (siehe Geschnörkel im GPS-Track) und gebe schließlich auf, suche abseits der Straße in einem Waldweg nach einem Wildzeltplatz. Und was soll ich sagen, klappt prima. Neben Kahlschlag steht das Europennerzelt unter einer alten Kiefer. Mitten im Gemetzel eine kleine Hütte, neben der drei Kajaks liegen, was mir ein bisschen surreal scheint, so weit vom Meer, aber vielleicht wandert ja ab und zu ein Fluss vorbei oder nachts bei Vollmond kommt der Courrant und nimmt sie mit auf seine ruhige Tour zwischen Sand und Kiefernnadeln?
Zur -> Karte. Die aktuellen Einträge sind hellblau markiert in der Ebene Radlantix, die man ggf. noch einblenden muss. Strecke der Tagesetappen abwechselnd dunkelblau und braun gestrichelt.