Frisches Baguette und ein Croissant, garniert mit Pain au Chocolat finde ich gestern früh beim Aufwachen vor dem Zelt. Dazu ein Zettel, Bonne Route! Ich hatte etwas Rascheln gehört in der Morgendämmerung, mischte das Geräusch im Traum mit verspielter Pac-Man-Computerspielemusik. Der Gedanke, dass ich im Maul von Pac-Man übernachte, hatte mich sogar in den Schlaf verfolgt. Nicht einmal den Namen meiner Gastgeberin kenne ich, aber das ist auch ein Zeichen, wie bedingungslos das Leben sein kann. Wir geben, was wir geben können und wir nehmen, was man uns gibt. So frei könnte das Leben sein, wenn es gelänge, sich gegenseitig als Unterwegsseiende, als Reisende zu betrachten, die durch ihr Leben driften. Die Politik der künstlichen Verknappung und der Hochsaisonabscheulichkeiten hier in der Gegend ist aber die lautere und bestimmendere Stimme im Kanon, wie man zu leben (und zu konsumieren) hat. Melkkühe des Atlantiktourismus.
Heute ist das Erwachen etwas unromantischer. Punkt acht steht eine Gruppe palavernder Jugendlicher vor der Surfschule jenseits des Campinkplatzzauns. Merke, Herr Irgendlink, betrachte neben dem Innen, in dem du dich bewegst, immer auch das Außen. Aus interner Sicht des Campings war es sicher klug, weit abseits vom Waschhaus zu lagern, nah beim Zaun. Dass hinter dem Zaun direkt eine Surfschule ist, deren ‚Motor‘ um Punkt acht Uhr anspringt, hatte ich nicht bedacht.
Über hundert Kilometer die gestrige Etappe. Nachdem ich Pac-Mans Maul entronnen bin, führt mein Weg zurück zum Meer, zurück auf die Vélodyssée. Nördlich der Bucht von Arcachon erwartet mich ein Radweg von absoluter Exorbitanz. Ich kann es nicht anders sagen. Ein bisschen erinnert er mich an eine Passage in Holland, die ebenfalls durch eine bewaldete Dünenlandschaft führte, vorbei an düster dreinblickenden Hochlandrindern, denen man sich nicht nähern sollte. Hier sind zum Glück keine dieser zotteligen Viecher zu sehen und ich bin bis auf ein paar Tagesradelnde ziemlich alleine zwischen Kiefern und Gesträuch. Ab und zue Rastplätze und immer wieder einsame Sandwege zum Strand. Die Piste du Cap Ferret führt streng nordwärts auf die Mündung der Garonne hinzu. Auf den etwa 25 Kilometern bis zum Étang de Lacanau gibt es keine Siedlung, sehen wir einmal von einem Golfplatz ab und auch nördlich des Étangs herrscht Friede auf feinen Wohlfühlradwegen. Eine wahre Vélodyssée sozusagen. Die Strecke hat es in sich. Ein einziges Auf und Ab. Sägezahnradeln wie in einer Endmoränengegend, nur, dass das Profil von Sand erzeugt wird, statt wie bei den Rändern der Eiszeitgletscher durch Felsen. Liebliche Dünen querab. Die große Pyla-Düne ist nicht die einzige ihrer Art. Eigentlich ist die Gegend zwischen Arcachon und der Garonne-Mündung gespickt mit Dünen, stelle ich fest. Ab und zu ein Regenschauer. Wind allgegenwärtig. Trotzdem verbringe ich die Mittagspause am Strand, nehme ein Bad, nur bis zu den Knien. Das Wasser ist eiskalt und der Wind tut sein Übriges. Gefühlte Temperatur: arktisch.
Die Lagerplatzsuche am Abend ist einfacher als gedacht. Ich kaufe mich frei. Hatte ich mich tagsüber – wo sehen Sie sich in acht Stunden? – noch wildzeltend in den Dünen irgendwo gesehen, siegte in Montalivet-les-Bains schließlich die Vernunft und ich quartiere mich auf dem örtlichen Camping ein, der sich mit Mitte zwanzig Euro als ‚im Prinzip bezahlbar‘ entpuppt (auch wenn ich rückblickend in die Cevennen oder gar nach Spanien sagen muss, das ist unverschämt teuer für einen einzelnen Radler mit winzigem Zelt. Wildzelten sei nicht zu empfehlen, sagt der Platzwart, es koste 200 Euro, wenn man erwischt wird und je höher die Saison, desto mehr werde kontrolliert durch die Ranger. Waldbrandgefahr, Müll und überhaupt, soll nicht jeder machen wie er will. Und ja, ich verstehe es ja: je mehr Mensch, desto mehr Dreistigkeit und je mehr Dreistigkeit, desto mehr muss man regulieren.
Nun vorm Zelt Baguette knabbernd, Thunfischfrühstück mit Croissant und Orangenmarmelade … er entehrt Croissants, schmiert sich Thunfischpaste aufs Schokocroissant … mein innerer Kulinarik-Ranger steht Strafzettelblock schwingend vor meinem Frühstückslager und notiert die Sünden … ich bin Engländer, behaupte ich, wo ist der Blutpudding … Spaß bei Seite, ich habe einfach Heißhunger auf alles, was der Europennerkühlschrank derzeit hergibt.
Wind frischt auf. Seit ich am Atlantik bin, den man hier in der Gegend einfach nur l’Océan, den Ozean nennt, sind Wind und Wellen und Sand meine treuen Begleiter. Die Drei Musketiere des modernen Radtourismus sozusagen. Heute werde ich den südlichen Abschnitt der Vélodyssée wohl beenden. Bei Royans gehts über die Garonne-Mündung. Nur noch knapp zwanzig Kilometer bis La-Ponte-de-Graye.
The Firth of Garonny, unkt mein innerer Schotte. Eine Fähre wird mich über den gut fünf Kilometer breiten Schlund bringen.
Die Garonne ist ein letzter Gruß aus den Pyrenäen.