Dass es sich bei meinen ‚Drei Musketieren des modernen Radtourismus‘ (siehe Beitrag zuvor) um eine Kampftruppe handelt, wird mir erst mit Verspätung bewusst. Es ist erstaunlich, wie sehr das Unbewusste sich seinen Weg sucht in diese meine Blogbeiträge. Wie durch die Harzkanäle einer alternden Seekiefer strömt klebrige, ätherisch streng riechende Gedankenmasse durchs Künstlerhirngewebe. Ein kaum aufzuhaltender Prozess, man möchte fast meinen, es sei natürlich. Die Gedankenpumpe pumpt und pumpt und pumpt und die Erlebnisse des Reisealltags tragen ihr Schärflein bei zu dem Sirup, der die Harzkanäle durchfließt.
Das Auftauchen der Drei Musketiere in Form von Sand, Wellen und Wind scheint mir eine recht simple Erklärung zu haben: ich habe kürzlich die Gascogne durchquert. In den Drei Musketieren kommt ein Gascogner vor, nun, und dieser Gascogner und die Zahl Drei für die den Radler plagenden Kräfte dieser Gegend machten daraus die Drei Musketiere.
Ich schreibe dies jedoch nicht, um zu erklären, warum was wie in mir denkt und weshalb sich dann solche Artikel wie der vorige oder der jetztige ergeben … dennoch, ich behalte den Gedanken über die Gedanken einmal im Hinterstübchen.
Ich mag das Meer nicht. Ich mag das Meer. Ich mag den Sand nicht und auch nicht den Wind und ich mag Sand und Wind. Die Zweischneidigkeit allen Voranradelns wird mir in den Wäldern um Soulhac-de-Mer bewusst. Der starke Nordwester nervt, bremst mich, trägt stets auch Sand bei sich, der durch die Vegetation notdürftig gefiltert wird. Wenn ich einem der Wege westwärts folge, um zum Strand zu gelangen, nimmt die Wucht dieser meiner Musketengegner zu. Die Vorderlader im Anschlag, mit gezückten Degen, lauern sie hinter den Dünen am weiten, ewigen Strand.
Ähm, najaaa. Die Leute, die da im Rudel vor mir wandernd und lustig plaudernd durch den Wald stapfen, sehen alles andere als nach Musketieren aus. Statt Mäntel und Degen, Musketen und schicken Spitzbärtchen und zum Gruß schwingenden Musketierhüten und Pulverhörnern tragen sie … Turnschuhe. Ja. Turnschuhe. Sonst nichts. Eine Frau hat einen Rucksack auf dem Rücken. Die etwa 15 Leute – immerhin machen sie bereitwillig Platz, als ich klingele – sind splitternackt. Mit lautem Hallo geben sie mir zu verstehen, ich soll mich nicht genieren, könne mich gerne auch ausziehen. Die Gegend im Garonnespitz ist das Dorado der Naturalisten, erfahre ich. Ich erinnere mich an den kilometerlangen Campingplatz mitten in der Natur, den ich vor Kurzem passierte und jetzt fällt fällt der Groschen. FKK ist in da Hood.
Hinter einer Düne lege ich das Radel in den Sand und, naja, da man hier ja so ganz zwanglos ist, ziehe ich mich bis auf die Unterhose aus. Im Windschatten ist es nämlich sehr warm. Die in Spanien vorgebräunte Haut muss das abkönnen. Ich packe mein Essen aus, Naked Lunch des kleinen Mannes mit Badehose und SOLCHEN Bräunungsrändern in der Mitte der Oberschenkel. Typisch für uns Langstrecken-Reiseradler.
Bei Le Verdon-sur-Mer erreiche ich nachmittags die Garonne-Mündung und die Fähre. Fünf Kilometer breite Bucht, früher Nachmittag. Fallendes Wasser. Deutlich erkennt man die Pendellinien, die die Gezeiten am Ufer hinterlassen. Ebbe und Flut bestimmen den Trichter zwischen Ozean und Pyrenäenfluss auch noch zig Kilometer flussaufwärts. In Norddeutschland an der Elbe hatte ich einmal einen Fluss erlebt, der mal in diese, mal in jene Richtung floss, je nachdem wie der Mond stand und somit auch, wie das Wasser des Planeten von ihm gelenkt wurde. Ich nehme an, hier in der Gegend ist das so ähnlich. Die Fähre ist gezeitenunabhängig, die Anleger hier und drüben in Royans so gebaut, dass die Schiffe immer hin und her fahren können. Die Überfahrt mit Radel kostet fünf Euro. Fast kommt es mir vor wie auf einer Rheinfähre am Mittelrhein. Ewiger Strom aus Autofahrenden, Touristen, Vélodysséereckinnen und -recken und Tagesradlern im mantrischen hin und her derweil sich die Massen des ziemlich langen Garonne (ich glaube, er ist über sechshundert Kilometer lang), unter den Fähren hindurch wälzen. Leckeis an Bord. Massenhaft Selfies und Filmchen. Ein Braunschweiger Paar im VW-Bus drapiert sich dicht neben meinem Rad. Gekonnt schwenkt sie die Kamera vom Grün des Decks zum Radel und hinüber zu ihrem Freund, der über die Reise, gegen den Wind anplaudernd, langsam zum Bulli läuft. Wie so ein Harald Lesch; wie inszeniert; wie nach Drehbuch. Ich muss schmunzeln. Sand und Salz und Gischt und das Schiff schaukelt ganz schön.
In Royans kaufe ich Lebensmittel, eine Flasche Wein, stelle mich wieder aufs Wildzelten ein, denn die Netzrecherche über Campingplätze in der Gegend zeigt exorbitante Preise, bzw.: viele sind noch gar nicht geöffnet. Manche scheinen nur im Juli und August zu öffnen.
Ein Familiencamping mit Spaßbad hat es mir aber angetan, trotz einem Preis von fast 50 Euro (2 Personen, Zelt und Auto; für Einzelreisende finde ich nichts auf der Webseite). Ich stelle mir einen Platz wie in Örebro in Schweden vor, familienfreundlich mit freiem Eintritt ins Schwimmbad und gigantischen Rutschbahnen. Ich liebe Spaßrutschen. Dafür würde ich glatt schwach werden, sage ich mir, als ich Royans verlasse. Wieder durch Wälder voller uralter Kiefern. Pins maritimes, See-Kiefern, hatten mir meine Nudistenfreunde erklärt. Nicht zu verwechseln mit Pinien.
War im Jahr 2000 bei der ersten Radtour von Zweibrücken nach Andorra die Schnecke, L’Escargot, mein Wappentier, ist es nun, zwanzig Jahre später die Pin Maritime. Beides sind Allegorien an die Verletzlichkeit, denke ich. Und an die Langsamkeit und an die Beständigkeit. Die Seekiefer mit ihren Adern aus Harz und ihrer relativen Stehaufmännchenfähigkeit nach Waldbränden, zudem auch ein Bild der Unverwüstlichkeit. Ich liebe den harzigen Duft. Erstmals tritt der Sand, die tosenden Wellen und der Gegenwind in den Hintergrund und im Waldveloroutengewirre nördlich von Royan werde ich sozusagen eins mit dem Baum.
Unter den abiotischen Schadfaktoren stellen Waldbrände, Frost und Schneebruch die bedeutendsten dar. Die See-Kiefer reagiert auf Immissionen weniger empfindlich als die Pinie (Pinus pinea) leidet aber vor allem in Küstennähe unter der mit Detergentien verunreinigten Meerwassergischt. Diese und weitere Stressfaktoren können zu einer Komplexkrankheit führen, welche sich durch Nadelausfall vor allem im Kronenbereich, dem Absterben von Ästen, kürzeren Nadeln und dem so genannten Blüheffekt äußert.
Was sind meine abiotischen Schadfaktoren?
Lärm, Gezeter, zu viele Menschen auf zu engem Raum. Autos, Motorräder mit übermotzten Lautplärrauspuffen … böse Menschen generell … der Europenner reagiert auf Immissionen weniger empfindlich als der Normaltourist, leidet aber vor allem in Küstennähe unter der mit Surfern verunreinigten Meerwassergischt. Diese und weitere Stressfaktoren können zu einer Komplexkrankheit führen, welche sich durch Nervosität, dem Absterben von Lebenslust, hektischerem Radeln und dem so genannten Wildzelteffekt äußert.
Das Spaßbadcampingdings ist nichts für mich. Lärm, Hektik, eine Gruppe Motorradler beim Checkin und ganz entscheidend: Ich erkenne keine bunten Türme so wie in der Lost City in Örebro, aus denen sich die Röhren der Riesenrutschen winden.
No Riesenrutsche, no cry singend radele ich weiter, in der Hoffnung, irgendwo außerhalb in einem schönen sandigen Seekierfernhain einen kleinen Farmcamping zu finden.
Rechnung ohne den Wirt Die Seekiefern enden jenseits von Marennes abrupt. Ich finde mich in einer unheimlich flachen, von Kanälen und Schilf durchzogenen Gegend wieder. Ein bisschen erinnerte mich die Szene an die englischen Fenlands. Marschland, vom Wasser und von Pumpstationen geprägt. Felder zwischen den Kanälen. Hier einen Zeltplatz finden, an dem man nicht auffällt, ist fast unmöglich. Dennoch, in den Fenlands, 2012 auf der North Sea Cycle Route hatte ich auch einen schönen Lagerplatz gefunden.
Die Vélodysée ist mit gelben Radelschildchen prima beschildert, verliert sich auf Kanalwegen. Plötzlich! Eine andere Gegend (Anspielung norwegisches Werbeprospekt 2010). Eine ganz unerwartete, andere Gegend ohne Zeichen von Tourismus, sieht man einmal von der Véloroute selbst ab. Le Tourist, c’est moi. Ich fühle mich plötzlich ganz frei, radele, die Sonne im Rücken landeinwärts entlang eines Kanals. Finde zwischen Schilf und einer Schutthalde neben einem frisch bepflanzen Feld schließlich einen guten Nachlagerplatz. Theoretisch könne ich sogar den Duschsack mit Brackwasser füllen. Ihn in die Seekiefer hängen. Die einzige meilenweit. In meiner Vorstellung ist es die letzte auf meiner Route. Die nördlichste ihrer Art.