Herumgegomringere an den weißen Stränden der Ré | #radlantix

Die Frage, ob ruhen oder nicht ruhen, lässt sich im Prinzip ganz einfach beantworten. Das Ruhen auf Radreisen endet meist im Sattel, wenn auch ohne Gepäck. Nur mal eben etwas anschauen, etwas einkaufen, kein Gepäck, kleines Programm.

Und so schaukele ich mit meinem kleinen Bündel Tagesbedarf auf dem Gepäckträger am gestrigen Tag denn doch noch Richtung La Rochelle. Ziel: sich trudeln lassen, kleiner Urban Artwalk vielleicht? Die Stadt fotografieren und den Hafen erkunden. Vielleicht kann ich sogar die U-Boot-Basis besuchen, die als Kulisse für den Film ‚Das Boot‘ diente? Zurück auf die Trasse der Vélodyssée, rein in die Stadt. Ungewöhnlich windstill und schon bin ich am Meer und schon an der hohen Straßenbrücke zur Île de Ré. Und schon auf der Rampe aufwärts, denn die Brücke muss den Sund in großer Höhe überqueren, damit die Frachtschiffe hindurch passen.

Wunderbarer Blick über die Gegend von diesem künstlichen Gipfel aus. Im Süden meine ich gar, die Düne von Arcachon zu sehen, aber das könnte auch eine Täuschung sein. Dünen gibt es ja in dieser Gegend wie Sand am Meer.

Auf Radwegen schlängele ich mich über die kleine, weiße Ferieninsel. Durch historische Orte, vorbei an einem riesigen Fort mit solchen Zacken und unüberwindlichen Mauern und schon bald erreiche ich die engste Stelle der Insel. Nur etwa hundert Meter breit ist die Ré beim Plage du Martrey. Über einen kleinen Damm abseits der Hauptstraße führt ein Radweg bis zum äußersten Zipfel beim Leuchtturm von Baleine.

Oder vielmehr bei den beiden Leuchttürmen von Baleine. Schmunzelnd muss ich einmal mehr an die Monty-Python-Groteske mit dem schielenden Afrikaforscher denken, der zwei Expeditionen zu den beiden Kilimandscharos führen will und eine Brücke zwischen den Gipfeln … und nun ich hier auf der Ré-Insel mit meinen beiden Zweibrücken-Andorra-Reisen im Gepäck, ausrollend am Atlantik bei den beiden Phares de Baleine. Es gibt tatsächlich zwei Baleine-Leuchttürme. Eine alten, vom Festungsbaumeister Vauban im siebzehnten Jahrhundert erbauten und einen neuen, mit 57 Metern viel höheren Turm, dessen Feuer noch heute in Betrieb sind, obwohl auch dieser Turm seit einigen Jahren zu den historischen Gebäuden Frankreichs zählt. Über eine Wendeltreppe kann man bis hinauf. Und im Betriebsgebäude des Vauban-Turms gleich nebenan, ist ein kleines Museum untergebracht.

Die Strände der Insel sind mäßig bevölkert. Noch ist das Wetter eher bescheiden, kühl, wenn auch nicht schlecht. Schwer beladene Menschen mit Sonnenschirmen und Picknick-Körben an sandigen Buchten, oft im Windschatten der Bunker. Faszinierend, diese uralten Bauwerke der Wehrmacht aus dem Zweiten Weltkrieg.

Aus meiner Heimatstadt Zweibrücken weiß ich, dass es eine Qual ist und unheimlich teuer, diese Bauwerke abzureißen. Vor einigen Jahren versuchte sich eine Abrissfirma an einem kleinen, etwa acht Meter hohen Turm einer Bunkeranlage auf dem Zweibrücker Kreuzberg ein paar Tage lang mit riesigen Meiseln an hydropneumatischen Baggern. Immer wieder brach der Meisel und irgendwann stellte man die Arbeit ein, ließ ein Bollwerk aus meterdickem Beton mit einem kleinen Löchlein zurück, aus dem die Stahlbewehrung wie ein Gerippe zu Tage trat. Angeblich hätte der Abriss des Kriegsbetons zu viele Meisel verschlissen und es wäre zu teuer geworden. Seither bleckt das kleine Monument aus dem Westwall-Bunkersystem als Mahnmal hinter Absperrgittern.

Hier am Strand von Ré gibt es zig von diesen Bunkern. Schräg geworden durch das Abrutschen der Masse auf dem sandigen Untergrund, mit Graffities besprayt, als Klo missbraucht oder als Windschutz oder als Geocache-Location. Einer der Bunker (Genannt Blockhaus) wird sogar als Ferienwohnung benutzt. In diesem Video aus dem Jahr 2014 kann man seine Restaurierung betrachten. Vor mich hin gomringisierend und über die Übel des Kriegs nachdenkend, lege ich mich neben einer Düne in den Windschatten und genieße mein Picknick.

Bunker
Bunker und Beton
Beton
Beton und Bagger
Bunker
Bunker und Bagger
Bunker und Beton und Bagger und
ein Blogger

Der Tag bringt viel Sand, viel Weiß, viel Beton, viele Touristen, und eine unterschwellige Tristesse. Ich schicke das Hirn auf Wanderschaft, barfuß  im Sand flanierend, die Synapsen kitzelnd. Schon habe ich das Foto meines Urgroßvaters im Sinn, stolzer Soldat, geschniegelte Uniform. Ein aufpolierter So-sollte-er-sein-Mensch auf Heimaturlaub. In Wahrheit jedoch: ruiniert, an die Front geknechtet, zwangsüberzeugt von etwas für Jemanden gegen Jemand anderen, sich bis aufs Blut wehrend gegen einen fremden Anderen, der ebenso überzeugt für Jemanden gegen Jemanden kämpft. Die Jemands diesseits und jenseits der Grenzlinien, denen ihre So-sollten-sie-sein-Menschen, die sie in ihren Territorien untergeben scheißegal sind. Aufeinander gehetzt wie Hunde oder Kampfhähne, den Interessen derer, die das Sagen haben unbarmherzig ausgeliefert. Kanonenfutter. Das Schicksal kann jeder erleiden. In jeder Epoche, egal, ob vergangen, jetzt oder bald.

Wer hat denn diese ganzen Bunker bezahlt? Die kleinen Leute im Deutschen Reich und sonstwo auf der Welt. Ganz normale Leute, die nie und nimmer etwas gegen die anderen ganz normalen Leute jenseits der Grenzen ihrer willkürlich per Macht zusammengeschusterten Reiche und Interessenssphären unternehmen würden. Menschen, die einfach vor sich hinwerkeln und einfach nur ihr Leben leben wollen. Wäre da nicht das Gift, mit dem man sie entzweit.

Ich glaube, die meisten Leute wollen einfach nur ihr Leben leben und in Ruhe gelassen werden. Und die wenigsten wollen Bunker finanzieren mit ihren Steuern oder Kampfjets oder Atombomben. Und trotzdem tun sie es. Wenn allen Steuerzahlenden weltweit bewusst wäre, für welch schreckliche Dinge ihre mühsam erwirtschafteten Talerchen verwendet werden, wer sich die Taschen vollstopft, was sich hinter den Mechanismen der Macht versteckt und die Zügel in der Hand hält …

Die schrägen Bunker auf der Île de Ré sind ja nur ein Bruchteil derjenigen, die am sogenannten Atlantikwall errichtet wurden. Wie auch der unabreißbare Turm auf dem Zweibrücker Kreuzberg und ein kleiner Teil des Westwalls ist, wie auch die Atombunker im Pfälzer Wald aus dem Kalten Krieg nur ein kleiner Teil einer ausufernden militärischen Exzessmaschine ist.

Angst
Angst und Hass
Hass
Hass und …

… ich muss aufhören mit diesem Herumgegomringere. Es führt zu nur zu Verdruss. Gegen Nachmittag radele ich über die Landstraße ostwärts, vom Wind getrieben, zwanzig, dreißig Sachen ohne große Mühe. Zum Glück! Denn die Tagesetappe hat es mit fast hundert Kilometern echt in sich. Das keine Gepäck und der Rückenwind am Ende machen es aber erträglich. Ich passiere La Rochelle ohne Stadtbesichtigung. Im Prinzip ist es wie mit Zaragossa, denke ich: irgendwann im hohen Alter kann ich ja als Städtetourist zurückkommen und über die Bunkeranlagen nachdenken, die meine vorher gelebt habenden Mitmenschen weltweit durch ihre Steuern finanziert haben, ohne dass es ihnen bewusst gewesen wäre.

Nunja, genausowenig eigentlich, wie es mir jetzt bewusst ist, was ich alles an Destruktion auf diesem Planeten finanziere.

Sei es nur der abendliche Supermarkteinkauf mit 8,63 Euro für ein Stück Käse und eine Flasche Wein. Anteilig tröpfelt meine Mehrwertsteuer in die Kasse des französischen Staats, der sich dafür eine Schraube fürs Cockpit einer Mirage leisten kann.