Home by the Pac-Man Fields | #radlantix

Heftige Gewitter auf See weckten mich gegen vier Uhr. Wetterleuchten, Sturmböen, die sich in der seichten Bepflanzung meines Nachtdomizils verloren. Das Zelt zum Glück gut verankert im harten Boden, der einmal Sumpf war, vermutlich. Weit abseits der Radelroute der Vélodyssée steht das Europennerzelt heute.

Der gestrige Tag? Ein Spießrutenlauf durch bis zur Vollendung monetarisierte Lande, so will ich einmal sagen. Ich hätte es wissen müssen. Der Trend, der sich schon in den Pyrenäen abzeichnete – je näher am Ozean, desto Geld – setzte sich die gesamte Küste aufwärts fort. Die Bepreisung von Campingplätzen und Unterkünften und Restaurants folgt vermutlich einer geheimen Formel, bei der die Distanz zum nächsten Strand ein nicht unwichtiger Faktor in der Preisberechnung ist. Nun kommt noch die Dune du Pilat hinzu. Europas größter Sandkasten, wenn man so will. Die Düne südlich der Stadt Arcachon ist die höchste Sanddüne Europas und somit auch ein faszinierender Touristenmagnet. Gleich zu Füßen des fast drei Kilometer langen Sandgebildes liegen etliche Campingplätze, auf denen man sich für viel Geld einquartieren kann. Ich habe erst knapp 50 Kilometer in den Beinen, kaum Mittag, also kein Bedarf, mich schon wieder einzuquartieren. Zum Glück! Mit 27 Euro wäre der Platz, auf dem ich mein Fahrrad abstelle, um die Düne zu besichtigen, sogar noch im normalen Preisrahmen. Vorsaison wohlgemerkt. In der Hauptsaison würde die Übernachtung fast 50 Euro kosten. Und als Vorbeireisender, der sein Fahrrad vollbepackt nicht in einem der Waldwege an einen Baum ketten möchte, zahle ich vier Euro für die Platztraverse oder fürs Radelabstellen oder als Düneneintritt? Es ist nicht so ganz klar. Der Wirt im Restaurant des Campings hält jedenfalls die Hand auf und lächelt verschmitzt. Mit einer Ich guck Dich-Geste und Zeigen aufs Radel gibt er mir zu verstehen, dass er aufpasst.

Vor etwa dreißig Jahren war ich im Winter schon einmal hier bei der Düne. Wir parkten das Auto in einem der Waldwege und stapften hinauf durch den Sand, waren fast alleine auf dem riesigen Gebilde und als wir zurück kamen, war die Scheibe am Auto eingeschlagen und das Radio geklaut. Ein Klassiker. Die Voleure haben Hochsaison, schätze ich.

Ich mache mich auf den Weg, ziehe die Schuhe aus, hänge sie mir über die Schulter, stapfe durch den Sand, verdammt warm. Nein, heiß! Schuhe wieder an und weiter, hundert Höhenmeter durch rieselndes Etwas. Was, wenn die Düne ein Lebewesen wäre, auf dessen Rücken wir Menschen wie Parasiten leben? Uns in ihrer weichen Oberfläche wälzen, eingraben, Hautschuppen und Fett und Schweiß hinterlassen, sie ordentlich durchkneten. Als Putzerfische gingen wir wohl nicht durch. Hie und da Müll, achtlos Verlorenes, eine zerbrochene Sonnebrille, Papierchen, Plastiktüten, eine Eistüte, im Schmelzen begriffen. Die Spur ist frisch. Weiter oben plärrt ein Kind, vermutlich dasjenige, das gerade sein Eis im Sand verloren hat. Serpentinös klettern Menschen hinauf, andere kommen purzelnd rutschend entgegen. Habemus fertig mit Dünenwesenputzerfischsein? Die Düne frisst das Land. Baumwipfel kurz vor der vollendeten Verschlingung.

Ihre innere Struktur verrät ihre lange Evolution, die sich über etwa 18.000 Jahre zurückführen lässt. Die verschiedenen aufeinander folgenden Klimata und Vegetationen lassen sich im Inneren ablesen. (siehe Wiki).

Wenn Wasser ein Gedächtnis haben soll, sollte Sand nicht vielleicht auch eins Haben? In einer Folge der Sciencefiction-Serie Raumschiff Enterprise wurde einmal die Geschichte eines Lebewesens aus Silkat erzählt. Dargestellt wurde eine Struktur wie ein Stern aus zu Glas geschmolzenem Sand, meine ich mich zu erinnern. Mit solchen Gedanken erreiche ich den Gipfel, trifft mich Westwind, strahlt Sand und soweit das Auge reicht hängen Gleitschirme in der Luft. Grotesk. Dicht an dicht gleiten die bunten Etwasse mit ihren daran baumelnden Menschlein verspielt im Wind. Darunter auf den flachen Stellen am Kamm der Düne vereinzelte Grüppchen auf Picknickdecken. Manche sonnen sich, andere sitzen einfach nur da und schauen aufs Meer. Was mich wundert ist, dass die Gleitschirmleute so problemlos aneinander vorbei finden, ohne zu kollidieren. Gibt es Statistiken, wieviele Gleitschirmunfälle hier jährlich passieren?

Das Dünenerlebnis vor dreißg Jahren – ich meine, es war Januar – war um etliches, sagen wir einmal, weniger bevölkert. Kalter Wind, aber sonnig, so erinnere ich mich.

Nun erlebe ich eine perfekt getaktete Tourismusmaschine, berechnet bis ins feinste Sandkorn. Den Weg zum Meer spare ich mir, obschon der Strand vor der Düne verlockend aussieht. Das vollbepackte Radel beim schlawinerischen Gastwirt kann ich aber nicht ganz ausblenden, also der Gedanke, es könnte sich doch jemand an meinen Habseligkeiten zu schaffen machen. Dieb ist nämlich ein Profiberuf hier in der Gegend. Ich schätze, die Diebe kommen morgens wie ganz normale Berufspendler aus Bordeaux hierher und arbeiten die hassardeurisch allen Warnungen und Verboten zum Trotz in den Waldwegen geparkten Touristenautos systematisch ab.

Wieder auf dem Radel die Straße nordwärts kurbelnd sehe ich keinen einzigen Weg, keine wilde Bucht, in der nicht eine Barriere daran hindert zu parken oder ein Schild es verbietet. Erst gegen Arcachon kommt ein riesiger, offizieller Parkplatz mit Parkwachthäuschen und Automaten, auf denen man offiziell parken darf. 13 Euro kostet der Spaß. Ich gehe davon aus, dass kontrolliert wird.

Bei Arcachon macht die Véloroute einen Schlenker um die Bucht. In der Karte sind zwar Fährlinien eingezeichnet, womit man abkürzen könnte, aber Herr Irgendlink tut ja immer das, was die Radwegeschilder ihm sagen und wenn die Vélodyssée will, dass du schlenkerst, dann schlenkere eben. Bordeaux gar nicht mal so weit. Für eine Weile radele ich direkt darauf zu.

Schon ist es Abend. Lagerplatz-Spießrutenlauf. Im Krieg mit den Unabdingbarkeiten perfekt vermarkteten Strands klappere ich zahlreiche Campingplätze ab, wobei ich es mir zum Sport mache, den Preis zu erfragen, die Hände über dem Kopf zusammenzuschalgen, „Mon Dieu“ rufend, „c’est trop cher!“ und einfach wieder zu gehen. Schon stelle ich mir eine Art Mission vor. Die Mission alleine reisender radelnder Europenner, die in einer Art länglichem Flashmob die französische Atlantikküste auf und ab radeln und lückenlos in allen Campingplätzen nach dem Preis fragen und die Hände über dem Kopf zusammen schlagend, „Mon Dieu, c’est trop cher, beaucouplus trop cher!“ skandieren und  weiterfahren.

Die Vorstellung davon hält mich bis etwa 19 Uhr aufrecht. Je näher die Nacht rückt, desto unruhiger werde ich und desto bereiter, einmal nicht „Mon Dieu“ zu sagen und den geforderten Preis zu zahlen. Wildzelten sieht auch etwas schwierig aus. Entweder ist alles ‚besessen‘ und eingezäunt oder es stehen strikte Zelten verboten-Schilder da, in Konjunktion mit Parken verboten-, Wohnmobile verboten-, Betreten verboten-Schildern und Hinweisen, dass man nichts im Auto lassen soll wegen der Voleure.

In Audegne bin ich endlich so weit, sage mir, jetzt sage ich nicht mehr „Mon Dieu!“, jetzt kaufe ich, egal, was es kosten möge. Quarante et un Euro! Ein. Und. Vierzig! Mon Dieu! Es dämmert. Ich radele weiter, folge der Straße landeinwärts nach Lubec, ha!, Lübeck in Frankreich, wenn man so will. Holstentor auf der Rückseite des 41-Euro-Scheins unbezahlbarer Nachtplätze. Landwirtschaftsgegend. Ruhiges Sträßchen. Jemand hat Pac-Man-Zeichen auf den Weg gemalt und Pfeile. Das ist so kurios, dass ich beschließe, den Markierungen zu folgen. Bin ich der Geist, der gefressen wird oder bin ich der Pac-Man mit den Zauberkräften, der mit schnappendem Maul allmöglichen Kreaturen durch ein Labyrinth hinterherjagt? Ich liebe dieses antike Computerspiel. Die Wege vereinzeln, werden immer schmaler und irgendwann stehe ich bei einem Feldweg vorm Briefkasten einer LKW-Werkstatt. Irgendwo im Nichts. Ein Hund bellt. Eine Frau nähert sich, leert den Briefkasten. Wir grüßen. Ich frage, ob sie mir Wasser gibt. Mon Dieu, bien sur. Frage, ob man hier wohl zelten dürfe, weise mit dem Kinn zu einem Platz neben dem Feldweg. Und die Frau sagt, komm mit! Ich gebe dir Wasser. Zelten kannst du in unserem Garten. Als ich ihr sage, dass ich den Pac-Man Symbolen gefolgt bin, lacht sie. Das war ein Spiel mit den Kindern letzten Herbst. Sie hatten eine Pac-Man Schnitzelagd durch die Gegend arrangiert anlässlich eines Geburtstags und ich solle mir doch einmal die Karten von Google anschauen, lacht sie verschmitzt. Ihr Haus liegt direkt im Maul von Pac-Man.

Unter einer alten Kiefer neben einem schrottreifen LKW baue ich das Zelt auf für die Nacht und schaue natürlich die Maps an. Tatsächlich! Mein Zelt steht mitten im dreieckigen Sektor eines riesigen Pac-Mans, der wohl durch die künstliche Bewässerung der umliegenden Felder entstanden ist. Man erkennt ein halbes Duzend kreisrunder, gut einen Kilometer durchmessender Felder auf dem Satelitenbild. Und mittendrin ist meins, das Einzige, das aussieht wie ein gefräßiger Pac-Man.

Eine Antwort auf „Home by the Pac-Man Fields | #radlantix“

Schreibe einen Kommentar zu Sofasophia Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

%d Bloggern gefällt das: