Lasst uns einen Ausflug machen nach Mannheim. Dem Mannheim des Jahres 2003, soweit ich mich erinnere. Dem Mannheim des ersten brutal heißen und unendlich trockenen Sommers in der Pfalz, an den ich mich erinnere. Auf der Rheinbrücke steht in diesem Jahr und vermutlich auch in den Jahren davor und danach in großen krageligen Graffiti-Lettern geschrieben: Beton ist gut. Beton ist schön. Beton ist lieb. Wenn man in der richtigen Richtung radelt und das Graffiti in der Reihenfolge liest wie ich es hier im Blogartikel wiedergebe, kann man sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn man beim fast kindlichen Beton ist lieb angelangt ist.
Beton ist ein Baustoff, der als Dispersion unter Zugabe von Flüssigkeit aus einem Bindemittel und Zuschlagstoffen angemischt wird. Der ausgehärtete Beton wird in manchen Zusammenhängen auch als Kunststein bezeichnet.
Der Reisende, der sich täglich kurbelnd auf dem Fahrrad durch fremde Gegenden bewegt und darüber nachdenkt, also über die Gegenden und über sich selbst und über seine Art sich fortzubewegen und über alles, was aktuell um ihn herum passiert, ist ein Denkstoff, der als Lebewesen unter Zugabe von Flüssigkeit aus einem Assoziationsmittel und Nährstoffen angemischt wird. Der zu Ende gedacht habende Reisende wird in manchen Zusammenhängen auch als Künstler bezeichnet.
Die Luft schmeckt nach Salz. Trüber Morgen. Schwere Luft presst den Lärm der N11 und La Rochelles zum morgendlichen Campingplatz. Unterm Geklapper des Alugeschirrs meiner Platznachbarn erwache ich, frühstücke, schreibe ein paar Zeilen über den Ausflug zur Île de Ré. Mein Nahbunker-Erlebnis mit Ausflug zu den beiden Leuchttürmen.
Ich übersehe dabei die Feinstofflichkeit allen Seins, wird mir jetzt klar. Vielleicht musste ich erst die gestrige Etappe absolvieren entlang der schnurgeraden Kanäle bis Marans und ab dort westwärts bis in einen wilden Wald zwischen Sand und Land, um mir bewusst zu werden, wie sehr ich selbst aus Sand und Wind und Meersalz und und was weiß ich noch allem bestehe. Der Vélodyssée-Radweg führt ab La Rochelle etwa zehn Kilometer weit schnurgerade nordwärts fast immer einem alten Kanal folgend, der sich hin und wieder tief ins Land eingräbt. Der Canal de Marans a La Rochelle wurde, soweit ich es in Erfahrung bringen kann, niemals in Betrieb genommen. Strafgefangene mussten ihn einst bauen und als der Kanal Mitte des 19ten Jahrhunderts endlich fertig war, war er schon überaltet, wurde quasi obsoletisiert von der neuen Technik der Eisenbahnen. Heute dient er als Touristen-Wasserstraße. Kajaks und Hausboote und eben wir Velodyssisten, die auf den alten Treidelpfaden über die ohnehin mit nur vier Schleusen auskommende Strecke dahin driften.
Es ist mitunter recht eintönig, schnurgerade auf einem Kanalradweg zu radeln. Eigentlich gibt es sonst nichts zu tun, als aufzupassen, dass man nicht vom Weg abkommt und über die Kanten gewellter Stahlrammen ins Kanalbett fällt. Mit etwas Übung, denke ich, könnte man den Radweg auch mit geschlossenen Augen radeln. So übernimmt meine Phantasie das Regime und denkt sich in die Position eines imaginären Forschers, der diesen Flecken Erde unters Mikroskop genommen hat. Und das, was auf seinem Glas liegt stellt sich ihm als eine unstrukturierte Sammlung von Molekülen dar: Salzwasser mit Sand und Teer und Menschmolekülen gemischt. Also beobachtet er eine Masse und kommt nicht auf die Idee, dass sich manche der Moleküle, die er im Fokus hat, in Form eines Körpers, eines Lebewesens, in Form von mir, zusammengefunden haben und so vor sich hin denken und sich ihn vorstellen.
Vielleicht waren es die Thalasso-Hotels und der Bunker namens Blockhaus, auf der Ré, die mein Hirn zu einem derart gewagten Ausbruch brachten, zu dieser Suggerierung, alles sei eins und alles hänge zusammen.
Thalassa (altgriechisch-dorischer Dialekt und neugriechisch Θάλασσα Thalassa; altgriechisch-attischer Dialekt Θάλαττα Thalatta „Meer“) ist in der griechischen Mythologie die Verkörperung des Meeres.
Sagt Wikipedia.
Thalasso (abgeleitet von altgriechisch θάλασσα thálassa ‚Meer‘) bezeichnet die Behandlung von Krankheiten mit kaltem oder erwärmtem Meerwasser, Meeresluft, Sonne, Algen, Schlick und Sand.
Sagt Wikipedia auch. Mische Mensch mit Wasser, Sand, Schlick und Algen et voila, Heilung? Heiße Spur. Nützt mir nur nichts. Bringt mich nur auf dumme Gedanken. Ich sei ein Sandkorn, das riecht und schwitzt und ab und zu einen Blogartikel schreibt. Trotzdem, der Gedanke mit dem Schlick, den Algen und den aus dem Meerschaum geborenen Heilkräften, der gefällt mir.
Ab Marans zweigt ein weiterer Kanal streng nach Westen ab. Keine Ahnung wie er heißt. Der Radweg folgt treu den Treidelpfaden. Ich kämpfe gegen den Wind, der mich nun frontal trifft, vergesse meine Feinstoff-Phantasien wieder. Entthalassoisierung des Hirns durch Gegenwind. Es ist manchmal gut, auf Widerstände zu treffen. Das lenkt ein bisschen ab, holt den Geist in die Körperlichkeit zurück. Auch meinen phantastischen überdimensionalen Forscher vergesse ich, wie er mich als Brei im Brei beobachtet, nichtsahnend, forschend …
Lasst uns einen Ausflug machen nach Selvik. Das ist eine kleine Meeresbucht unweit des Nordkaps. Dort hatte ich ein Gegenwinderlebnis, das mich vom Gefühl her sehr an dieses Marans westwärts erinnert. Nachhaltiger. Ausgesetzter. Hilfloser. Für eine Strecke, die ich eigentlich in einem Radeltag zurücklegen wollte, brauchte ich zwei Radeltage. In Selvik gibt es eine Betonskulptur oder nennen wir es besser, einen künstlerisch gestalteten Picknickplatz, der aus Beton gebaut wurde.
Das gesamte Bauwerk wurde in Ortbetonbauweise unter Zugabe von Gesteinskörnungen aus der Region errichtet. Seine zur Landschaft passende hellgraue Betonfarbe beruht auf der Beimischung von Titanoxid als Weißpigment. Sämtliche Oberflächen zeigen die Abdrücke der verwendeten, saugenden Holzschalungen. Durch die präzise Platzierung der 35 Millimeter dicken Bretter mit trapezförmigen Profilen ließen sich die Fugen auf eine minimale Breite reduzieren. Als Schalung für die runden Gucklöcher dienten handelsübliche Industrierohre mit unterschiedlichen Querschnitten.
Selvik, Mannheim, Beton, Sand, Feinste Stoffe, Algen, Aerosole, Luft, und ein denkender Mensch und das ganze schön gemischt und neu konfiguriert, dann noch ein paar Finger und ein bisschen guten Willen und schon kann man daraus prima einen Blogartikel schustern.
Nun, da ich dies schreibe, bin ich nicht so ganz überzeugt. Ich sitze im Zelt in einem aufgelassenen Grundstück unweit der örtlichen Décheterie. Das ist so eine Art Wertstoffhof, auf dem man aber auch Restmüll abgeben kann. Gerade wird der Glascontainer abgeholt. Vom Atlantik getragenes Geräusch geborstenen geschmolzenen Sands. Der Nachtplatz war brilliant. Einem Impuls folgend bog ich abends von der Vélodyssée-Route ab und folgte den Décheterie-Schildern. Irgendwo neben dem Zaun würde sich etwas finden lassen, so dachte ich. Guter Instinkt. Jahrelange Wildzeltplatzsucherfahrung geballt in einem Sandkorn von Mensch, das sich durch einen Gigantismus von Universum bewegt.
Mein überdimensionaler Molekülebeobachter wäre sicher hocherfreut, wenn er beobachten würde, wie sich eine nicht unbeträchtliche Ansammlung von Molekülen (ich, das Radel und das Zelt) untrennbar in eine ganz bestimmte Richtung bewegen würden. Eine geheimnisvolle Anomalie im Amorph seiner Petrischale.