Sonntag, 3. Mai. Camping Insolite le Hautevillage.
Ein Kreis schließt sich. Ich könnte die Loire wiedersehen. Mit 1004 Kilometern ist sie Frankreichs längster Fluss, der von der Quelle bis zur Mündung im Land fließt. Wie lange ist das jetzt her, dass ich die obere Loire hinauf keuchte ins Zentralmassiv? Drüben im anderen Blog berichtete ich auf dem Weg südwärts darüber. Eine andere Zeit. Eine andere Gegend. Ein anderes Leben. Flussaufwärtsleben. Leben bis zur Quelle. Fast. Und über unzählige Berge und anderen Flüssen folgend, jeden nur erdenklichen Krieg der vergangenen fünfhundert Jahre mit im Gepäck … was für ein schweres Blogwerk doch das Irgendlink-Blog – dieses Zweibrücken-Andorra 2020 – war im Vergleich zu diesem meinem neuen, Meerschaum umspülten atlantischen, radlantischen Spaziergang.
Das Frühstück in der Escale de Bouin, Chez mon Oncle war grandios. Fulminantes Buffet. Frische Croissants, Pain au Chocolat, Joghurt, Müsli, Kaffee zur Nöche, Orangenmarmelade. Fast hätte ich mich eine zweite Nacht eingemietet. Doch die Vernunft siegte. Und der ächzende Geldbeutel.
Sonntag. Erhöhter Strandtourismus. Proppenvolle Landstraßen, doch die Véloroute hält stand, wirklich gut gemachter Fernweg, oft auf eigenen Fahrradtrassen oder kaum befahrenen Nebenstrecken und Feldwegen und Kanalwegen. Das ist mein Frankreich!
Über Bourgneuf und Les Moutiers nach La Bernerie. Allesamt Orte mit dem Zusatz en Retz, also Bourgneuf-en-Retz usw.. Ich durchradele also die Länder des Retz, les Pays de Retz. Die Gegend ist steiniger geworden. Das ist mir schon auf der Île de Noirmoutier aufgefallen und bei den von Felsen zu Sandbuchten geknechteten Sandstränden nördlich von Saint Gilles. Endlich etwas Abwechslung. In der Retz gibt es zahlreiche steinzeitliche Dolmen.
Über Pornic verläuft die Route Bleue (deutsch „Blaue Route“), an der elf bedeutende prähistorische Megalithmonumente liegen. (Wiki Pays de Retz).
Schmunzelnd wegen des Ortsnamens durchquere ich Pornic. Die Küste ist rauer. Die Strandlinie nicht gar so verhotelisiert wie weiter südlich, etwa in Les Sables d’Olonne. Fast fühle ich mich an die schwedische Schärenküste erinnert, wären da nicht die Gezeiten und wären da draußen auf dem Meer mehr Felsen und das Licht könnte auch etwas bläulicher sein, finde ich. Egal.
Ein Wohlfühlradeltag fast ohne Wind unter heißer Sonne. Die Loire ruft. Ich bin unruhig, fast nervös, gönne mir kaum Pausen, unterzuckere gegen 17 Uhr irgendwo beim Abzweig eines Sandwegs von der Véloroute. Schokolade aus der Fronttasche, belegt mit Traubenzucker. Trinkflasche in einem Zug geleert und weiter durch seichtes Waldgebiet, wohl wissend, dass das keinen Sinn ergibt. Du kannst es nicht erzwingen. Du darfst es nicht erzwingen. Nichts ist destruktiver als unbedingt vorankommen wollen. Nichts bremst mehr, als sich wo sehen, wo man nicht sein kann, weil die Zeit nicht reif ist dafür.
Und was erwartet dich schon, wenn du es bis zur Loire schaffst? Flussland. Breit gewordene Lieblichkeit, die sich 1004 Kilometer weit ihren Weg aus dem Zentralmassiv bis hierher zum Ozean gebahnt hat. Da wird nichts mehr übrig sein von der Wildheit der Schluchten zwischen Roanne und Le Puy. Schloss Essalois kommt mir in den Sinn und all die anderen alten Burgen, die teilweise in den Stauseen der hohen Loire versunken sind.
Zehn Kilometer noch bis zur Brücke nach Saint Nazaire, sagt das GPS. Luftlinie. Ein Katzensprung und der Kreis schlösse sich, aber ich bin müde und ich weiß, dass in solch gierigen Momenten nur eins hilft: innehalten. Da kommt mir das Hinweisschild zum Campingplatz gerade recht. Ein ‚Camping Insolite‘. Ein ungewöhnlicher Campingplatz, wenn man es wörtlich übersetzt. Nahe der Ortschaft Saint-Michel-Chef-Chef. Ha! Pornic, Chef-Chef. Was kommt als nächstes? Die Ortsnamen der Gegend sind einfach grandios. Gegen 20 Uhr quartiere ich mich ein auf dem ungewöhnlichen Campingplatz. Ich könnte gegen Aufpreis auch in einem Flugzeug übernachten oder in einem alten Tramwagen aus Nantes, aber das Zelt genügt vollauf an diesem windstillen 48. Reisetag.