Samstag, 2. Mai. Saint-Gilles-Croix-de-Vie bis Bouin.
Mehr Meer! Wenn ich so weiter mache, verwandele ich mich noch in einen Ozean, getreu der Molekültheorie, die in Flann O’Briens Roman ‚Der dritte Polizist‘ propagiert wird: Je intensiveren Kontakt du mit etwas hast, desto mehr Atome dieses Etwas sammeln sich in dir und desto mehr deiner Atome wandern in das Etwas. Menschen, die viel Fahrrad fahren, werden demnach irgendwann zu Fahrrädern (so beschrieben im dritten Polizist). Menschen, die am Ozean unterwegs sind, werden mit jedem Tag ozeanischer …
Spät breche ich auf. Die Rezeption auf dem Camping des Cypres ist aus unerfindlichen Gründen an diesem Morgen geschlossen. Bei der Telefonnummer, die an der Tür hängt, geht niemand ran. Und da ich meinen Pufferakku zwecks nächtlichen Aufladens noch in der Rezeption liegen habe, bleibt mir nichts übrig, als zu warten. Gegen elf kommt die Rezeptionistin endlich, entschuldigt sich tausendmal und macht dabei ein betrübtes Gesicht. Ihr Mann ist erkrankt, so viel verstehe ich und sie musste ihn ins Krankenhaus bringen. Herrje. Ich hoffe, das wird wieder und wünsche ihr alles Gute.
Dann zurück zur Vélodyssée-Route, gut beschildert, schon bald in Saint Gilles. Oder vielmehr Saint-Gilles-Croix-de-Vie. Die Gemeinde wurde nämlich aus mehreren anderen Gemeinden vor einigen Jahren zu einer Verbandsgemeinde zusammengefasst. Und mit der Zusammenfassung entstand auch gleich ein neuer Typ Gemeindebewohner: die Gillocruciens.
Der Ort entstand aus der Fusion der bis 1967 selbständigen Gemeinden Saint-Gilles-sur-Vie und Croix-de-Vie. Die Einwohner nennt man seither Gillocruciens. (siehe oben verlinkten Wikiartikel)
Irgendwie charmant. Wie auch das Städtchen selbst. Verschlafene Geschäftigkeit an gigantischem Strand. Ich kann mir vorstellen, dass das Radeln hier in der Hochsaison im Juli und August ein harter Spießrutenlauf ist. Zwischen Sonnenhungrigen und Feiervolk und arglos dahin wandelnden Strandgängern mit SOLCHEN Badetaschen und spitzen Sonnenschirmen, Paddeln, Plantschentchen und Schlauchbooten.
Raus aus der Stadt, rein in die nächste Stadt, Saint Hilliaire und vorbei am Feu de Grosse Terre. Hatte ich erwähnt, dass die Atlantikküste in Frankreich ein einziges großes Verbinde-die-Leuchttürme-Spiel ist? Oder verbinde die Nazibunker? Jaja, ich übertreibe. Jedenfalls kommen Leuchtturmfans hier voll auf ihre Kosten. Der Feu du Grosse Terre ist ein schlichter Leuchtturm von der Stange, nur 17 Meter hoch. Dennoch schön anzusehen.
In La Barre-de-Monts verlasse ich die Vélodyssée und mache einen Abstecher zur Île der Noirmoutier. D 38. Sundbrücke. Aufwärts schwitzend bis zum Scheitelpunkt hoch über dem Meer. Der Radweg ist schmal, von einer Leitplanke zur Straße abgegrenzt. Immer wenn mir jemand auf meiner Seite entgegen kommt, muss ich mich am Geländer festhalten und warten, bis die oft recht forschen Mountainbikeleute an mir vorbei sind. Erst als es wieder abwärts geht, verstehe ich, warum sie alle auf meiner Seite fahren und nicht drüben auf dem anderen Radweg. Der ist nämlich von einer Baustelle blockiert. Gut, dass ich so gelassen bin. Gut, dass ich nicht geschimpft habe.
Mein Plan, die Insel über eine andere Straße zu verlassen und zurück zur Radroute zu kehren, geht irgendwie auf. Irgendwie auch nicht. Die Passage du Gois entpuppt sich als Gezeitenstraße. Just gegen 14 Uhr, als ich am Einstieg eintreffe, herrscht Hochwasser. Genug Zeit also, um den Tidenhub bis ins Feinste zu studieren. Auf einem Aussichtspunkt mache ich es mir im Windschatten eines Mäuerchens gemütlich, wohl wissend, dass es bis zum nächsten Niedrigwasser nur noch sechs Stunden sind. Hier übrigens ist das Problem mit Ebbe und Flut auf großen Schildern erklärt (beim napoleonischen Fort Enet vor ein paar Tagen gab es keine Schilder) und man warnt die Durchfahrenden und es gibt sogar eine Zeitanzeige. Trotzdem versinkt hin und wieder mal einer in den Fluten. Gegen Abend, als die ersten Autos die Passage nehmen, schwinge ich mich wieder in den Sattel. Die Strecke führt etwa vier Kilometer weit durchs Watt. Teils geteert, teils mit quadratischen Pflastersteinen belegt, die erstaunlich schnell abtrocknen in der Abendsonne. Alle paarhundert Meter erhebt sich ein kleiner Turm, den man auf einer Leiter erklimmen kann. Das sind also die als Schutzhütten in der Open Cycle Map verzeichneten Objekte. Ein paar aufgeschichtete Wackersteine, darauf eine Stahlkonstruktion und Leitern zum Hochklettern. Gut zu wissen, sollte man mit dem Radel einmal liegen bleiben. Schon kommt mir die Idee, eine Tide lang auf einem solchen Turm zu verbringen. Zwecks vollständiger Verozeanung à la Flann O’Brien.
Aber ich bin nicht verrückt. Für die Nacht habe ich mir ein Zimmer in Bouin reserviert. Nennt mich sentimental, ich habs getan, weil meine Vorreisenden, Klaus und Antje auf ihrer Vélodyssée im Jahr 2017 auch in diesem Ort abgestiegen sind. Und, naja, das Zelten im ewigen Wind geht mir auch langsam an die Nerven. Weshalb ein Freikaufen nötig ist. Das Zimmer ‚Chez mon Oncle‘ in der Escale a Bouin kostet 60 Euro inklusive Frühstück. Nicht gerade billig (bzw. für diese touristische Gegend eigentlich ein Schnäppchen), und hey, der Name allein ist doch schon köstlich, bei meim Onkel :-). Manchmal darf man sich auch etwas gönnen.
Noch etwas mehr Meer-Fakten? Bouin lag ursprünglich auf einer Insel und war von Watt umgeben, den Tiden ausgeliefert, bis das Land trocken gelegt wurde. Und die Île de Noirmoutier liegt größtenteils unterhalb des Meeresspiegels. Wir haben es also in diesem Blogartikel mit einem Menschen zu tun, der mehr und mehr Meer wird, einer Insel, die Meeresgrund wäre und einem Städtchen, das eigentlich Insel wäre. Alles klar?