Das muss mir erst mal einer nachmachen: Auf der Suche nach einem mechanischen Steampunk-Elefanten über Aristide Briand, Willy Brandt und gevoûtete Balkenbrücken in den schmalen Kuhlen der Flure eines Krankenhauses zu landen und über Staub, Dreck und leichte Reinigbarkeit zu sinnieren!
Es ist nicht unbedingt schwer, ein Europenner-Zeltlager sauber zu halten. Wenn du dein Zelt zusammenlegst am Morgen nach einer weiteren Campingnacht auf endloser Reise von Wo nach Wo, musst du eigentlich nur den Reißverschluss des Eingangs bis zur Gänze öffnen und den Fetzen Stoff gut ausschütteln, bis alle Krümel draußen auf der Zeltwiese liegen. Keine Voûte von Nöten. Zum Glück.
Ich bin träge am gestrigen Tag und ich hatte ja schon ins Auge gefasst, einen weiteren 25 Euro teuren Tag auf dem Stadtcampingplatz zu bleiben, um mir die ehemalige Hauptstadt der Bretagne anzuschauen. Meine Vorreisenden, Antje und Klaus berichten in ihrem Blog des Jahres 2017 über einen Kunstrundweg durch Nantes, auf dem sie zahlreiche Straßenkunstwerke zu sehen bekamen, was mich magisch anzog. Dem Kanalweg am Flüsschen Erdre folge ich fast fünf Kilometer abwärts, stadteinwärts Richtung Loire. Bilde mir ein, dass ich unweigerlich irgendwelchen touristischen Rundwegschildern begegnen werde, denen ich einfach folgen und mich treiben lassen kann, wie so ein in den Fluss gefallener Typ in einem hohen Sommer. Das kühle Nass genießend und die Stadtlandschaft vorbei ziehen lassend. Aber Stadt ist Irrtum. Stadt ist Ungewissheit. Stadt ist Gefahr, hin und wieder.
Wenn ich nur an die Durchquerung von London denke während der Radelrunde um die Nordsee. Gewarnt zum Glück durch seltsame Begegnungen mit zehn zwölf jungen Kerlen irgendwo in den Docks, die mich ansprachen und versuchten, mich zu stoppen. Ich weiß nicht, ob sie nett gewesen wären, vermutlich nicht. Rücksichtslos setzte ich meine Tour auf dem Nordseeküstenradweg fort, ohne zu stoppen. Die Tour zurück ins Zentrum von Nantes ist ähnlich spießrutenläufig. Irgendwo lösen sich ein paar Leute von einer Parkbank, auf der sie lungernd in den Tag lebten und kommen auf mich zu und quatschen mich schon von weitem an, ich solle anhalten, nicht sehr freundlich, so dass ich ordentlich in die Pedale trete und das Weite suche. Einmal mehr entronnen.
Es sind komplizierte Situationen, die man in großen Städten erlebt. Ich war immer ängstlich und unfreundlich genug, nicht anzuhalten, sei es in Genf, London, Barcelona oder wo auch immer ich radelte und ich denke, es war gut, unfreundlich zu sein und sich nicht einzulassen. Ja, manchmal ist es wichtig, nicht nett zu sein.
Natürlich kann ich nicht wissen, was passiert wäre, wenn ich gestoppt hätte in London, Barcelona, Genf oder nun hier in Nantes. Hätte ich mich mit den netten Passantinnen und Passanten unterhalten? Ich weiß es nicht. Eins ist klar: Als Tourist ist man immer auch Melkkuh. Legal und einwilligend bei all den Tandlern, die dir irgendwelche Souvenirs andrehen wollen, wie unfreiwillig und als Opfer bei allfälligen Kleinkriminellen, die es in jeder Stadt gibt.
Zwischen der Aristide-Briand Brücke und der Willy Brandt-Brücke mündet der Erdre in die Loire. Hier endet der Kanal von Brest nach Nantes, dem ich die nächsten Tage durch die Bretagne folgen werde auf meiner Vélodyssée.
Ich bin im Zentrum von Nantes angelangt auf einer vier Kilometer langen Insel in der Loire. Der Bras de la Madeleine und der Bras de Pirmil umarmen die Insel sprichwörtlich als zwei Flussarme nördlich und südlich des Fleckchens.
Den Kunstpfad konnte ich bisher nicht finden. Aber mein Elefant ist allgegenwärtig auf braunen Tourismusschildern ausgewiesen. Eine filigrane, technische Zeichnung zeigt einen feingliedrigen, riesigen Elefanten, auf dessen Rücken zahlreiche Menschen sitzen. Ich folge den Schildern bis zu den ‚Machines de l’isle‚, den Maschinen der Insel.
Phantastisch! Das ehemalige Gelände der Traditionswerft von Dubigeon aus dem 18. Jahrhundert ist Herberge für … hmm, was ist das? Es ist eigentlich wie nicht von dieser Welt. Oder typisch französisch. Kreative Leute haben in den letzten zwanzig Jahren das Projekt der ‚Maschinen der Insel‘ etabliert und zahlreiche mechanische, begeh- und befahrbare Kreaturen aus Stahl und Gelenken und edlen Hölzern und Hydraulikschläuchen gebaut. Steampunk at it’s best. Jules Vernes trifft auf Leonardo da Vinci und die Werftvergangenheit von Nantes.
Auf dem bemerkenswerten Gelände der ehemaligen Werften begegnen sich die imaginären Welten von Jules Verne, das mechanische Universum von Leonardo da Vinci und die industrielle Vergangenheit der Stadt Nantes. (Webseite der Künstlergruppe La Machine).
Für 8,50 Euro kann ich mich einkaufen in den Trubel aus mechanischen Kreaturen. Mische mich mit anderen Touristen und den Künstlerinnen und Künstlern, die als MaschinistInnen untrennbar zum Bild gehören. Straßentheater trifft Technikmuseum. Verne und da Vinci tanzen mit moderner Kreativität. Und ich mittendrin.
Der Elefant ist das Herzstück der Ausstellung in Progress, an der seit fast zwanzig Jahren ununterbrochen gearbeitet wird. Fast fünfzig Tonnen wiegt die Maschine. Ein kleines Hochhaus von 12 Metern Höhe, acht Metern Breite und einer Länge von 21 Metern. Das zudem auf wundersame Weise durch das Werftgelände spazieren kann. Der Phantasmus ist aus Holz und Stahl und Kugellagern und Öl und Hydraulik und dem Ingenieurswissen und der Kreativität von Generationen gefertigt. Obendrein ziemlich umweltfreundlich mit Elektromotoren und vielen Pumpen getrieben, die die Gelenke in Bewegung setzen. Jules Vernes hätte seine wahre Freude an dem Koloss. Wie auf einem Flugplatz steigt man über eine Gangway in den Bauch des Tiers und kann sich in dem vor sich hin stapfenden Monstrum umschauen. Quasi in die Eingeweide sehen. Auf der Plattform auf dem Rücken hat man einen prima Ausblick über die vier Quadratkilometer große Île de Nantes und die beiden Flussarme Madeleine und Pirmil.
Jules Vernes ist der berühmte Sohn der Stadt. Der Science-Fiction-Visionär und – ich will es einnmal forsch formulieren – womöglich Vater des Steampunks, wurde 1828 in Nantes geboren. Er ist Autor zahlreicher phantastischer Geschichten aus der Geburtsstunde der Industrialisierung und Mechanisierung. Ein Museum auf dem ‚Festland‘ jenseits der Insel gibt Einblick in sein Leben und Werk.
Was für ein bombastischer Reisetag! Warum er in der schönen, runden Kuhle eines leicht zu reinigenden Krankenhausflures endet, will ich nicht verheimlichen. Natürlich war ich neugierig, warum eine der vielen Brücken, die die Nantes-Insel mit den beiden Flussufern verbindet, Willi-Brandt-Brücke heißt. Weshalb ich das Internet ausspionierte, nichts Konkretes zwar fand: Ob zum Beispiel Willy und Aristide, sein Brückennachbar, einst Freunde waren? Nein nein, das kann eigentlich nicht sein. Aristide Briand starb ja schon 1932. Wie auch immer. Über Bauingenieurs-Geheimwissen und die bauliche Konstruktion der Pont Willy Brandt als gevoûtete Balkenbrücke hangelte ich mich durch zahlreiche Webseiten zum französischen Begriff la Voûte, was im Grunde etwa mit Rundung oder Bogen oder Hohlkehle übersetzt werden kann. Also ein formgebendes Element, das vielfachen Einsatz beim Bau findet. Unter anderem eben auch auf Krankenhausfluren, wo die harten Kanten des Fußbodens durch Voûtes gebrochen werden, damit sich kein Dreck in den Ecken sammelt.
Um ein wûchtiges Nah-Elefanten-Erlebnis reicher und dem Wissen um das Geheimnis der la Voûte, radele ich an diesem gestrigen 51. Reisetag erschöpft zurück zu meinem Zeltplatz. Zum Abendessen gibt es treffender Weise Kochbananen in Sojasoße. Ich finde, das bin ich der Voûte schuldig, die ja im Prinzip auch nur eine Art Antibanane ist, so vong Form her.