Wie es beginnt, wie es weitergeht, wie es endet, das frage ich mich manchmal auf solch langen Reisen. Eine sehr unbequeme, beängstigende Frage, denn sie kratzt am Sinn und man kann dabei recht schnell in eine negative Rückkopplung verschiedener Sinnfragen kommen und im schlimmsten Fall in ein depressives Loch stürzen, in dem alles und jedes, was je fühlbar war, verschwindet und es bleibt nur noch dumpfe Leere. Plötzlich findet man sich wo, beziehungsweise, man befindet sich ohne greifbares Wo. Und man ist nirgends und will selbst dort nicht sein. Man will nicht weiter. Zurück geht auch nicht, was das Existieren, ich möchte diesen Zustand nicht Leben nennen, sehr unangenehm macht.
Vorm Zelt dichter Nebel. Das Dorf erwacht mit dem Geschepper eines Transportlasters, der Waren beim örtlichen Lebensmittelgeschäft abstellt. Das Geräusch von Schlüssel, unbeholfen kratzend im Schloss, das Klappen der Tür, die Hydraulik der Laderampe und das metallische, schwere Rollen des Hubwagens. Paletten voller Lebensmittel, Dinge des täglichen Bedarfs werden im Lager verstaut. Es beginnt, es fährt fort und es endet damit, dass der Motor angelassen wird und der Laster davon braust. Danach ist für eine Weile ruhe. Der Morgen dämmert. Licht fängt sich im Nebel, kommt darin um. Zwei Nacktschnecken kopulieren vorm Zelt, sehen aus wie ein rotbräunliches Jin und Jang, wie sie sich unendlich langsam winden. Es hat begonnen, sie setzen es fort und wenn ich nicht aufgepasst hätte beim Verlassen des Zelts, um in den nahen Bach zu pinkeln und auf sie draufgetreten wäre, hätte es vorzeitig geendet mit dem Jin und Jang Spiel zweier Schnecken am Kanal von Nantes nach Brest.
Ich liebe Nebel. Trotz seiner Zweischneidigkeit. Er dämpft und er schützt. Beim Wildzelten ist er selbst am helllichten Tag wie ein Tarnmantel und man würde sich trauen, das Zelt an Stellen aufzubauen, bei denen man bei normalen Lichtverhältnissen nie zelten würde. Vor vielen vielen Jahren zelteten wir einmal auf dem Rheindamm bei Speyer, bauten abends auf einem feinen Wieschen auf der Krone neben einem Pfad auf. Um später von Hundegassigängern umwandert zu werden, die das Zelt im wirklich sehr sehr dichten Nebel erst wenige Meter vorher entdeckten. Eine gut getarnte Nacht im Gewohnheitsgewölbe der Anrainer.
Alles ist nass. Ich koche Kaffee. Der Dampf kann kaum entrinnen, so sehr drückt der Nebel aufs Zelt. Ein Ringen der Dämpfe um die Vorherrschaft. Nass Zusammenpacken ist angesagt an diesem Morgen. Hoffen auf Sonne irgendwann. Die Wetterapp sagt, dass es ab elf Uhr schön wird. Dann kann ich an einem der vielen Picknickplätze am Kanalradweg das Zelt ausbreiten und es trocknet binnen weniger Minuten.
Ich gebe zu, dass ich mich zwingen muss, zu radeln. Eine merkwürdige Lähmung hat mich befallen. Die Reise neigt sich bedrohlich dem Ende. Luftlinie Guenmouet bis Roscoff sind es noch etwa 200 Kilometer. Hinzu kommen die vielen Windungen des Kanals. Also schätzungsweise 300 Kilometer zu radeln. Vier Reisetage und Zack, Ende.
Das Leben ist schon ein merkwürdiges Vorkommnis. Seit über fünf Jahrzehnten bin ich schon auf diesem Planeten. Was mache ich hier? Wozu ist das alles gut? Auf einem durchgelegenen Bett aus zum Glück meist guten Gefühlen surfe ich durchs All auf einem runden Klotz Materie, der sich um sich selbst dreht und um andere Himmelkörper. Blauer Ball, umschwirrt vom Mond, der übrigens heute voll ist. Rase mit tausenden Kilometern pro Stunde durchs Nichts und funktioniere in meinem Mikrokosmus und in meiner Gesellschaft in meiner Zeit. Die Sinnfrage zu stellen ist keine gute Idee. Sie bringt nur Verdruss. Auf Reisen wie auch auf dem Lebensweg. Es führt zu nichts, sich immer wieder mit eigentlich Unbeantwortbarem zu beschäftigen. An irgendeinem Punkt der Gedankenkette um den Sinn komme ich immer zu der Erkenntnis, dass ich nichts tue, als von einem Tag in den nächsten zu leben. Eine Pedalumdrehung folgt der nächsten und unter mir fliegt das Land von Gegend zu Gegend, gerade eben gestartet, vor einem halben Jahrhundert als ein aus dem Nichts entstandener Zellhaufen sehe ich schon dem Ende entgegen im Rosscoff des eigenen Lebenswegs.
In solchen Momenten hilft eigentlich nur, sich auf den Moment zu konzentrieren, versuchen, der nahen Umgebung etwas abzugewinnen. Eine Schleusenwand mit Graffiti besprayt, zwei Angler mit dreizehn Ruten, die sie auf zwanzig dreißig vierzig Metern verteilt aufgesteckt am Kanal drappiert haben. Und im Tief des Flusses erwachen die Fische, um endlich anzubeißen.
Vielleicht funktioniert mein Reisen metamorphosisch, sinniere ich. Ich erinnere mich an die ersten Tage in der anderen Reise. Das verpatzte Zweibrücken-Andorra 2020, das niemals stattgefunden hat, weil just in der Zeit, als ich starten wollte, die französische Grenze wegen der Pandemie dicht machte. Ich daheim fest saß, vom Bürostuhl aus Texte schrieb und meiner eigenen Spur der Reisen aus den Jahren 2000 und 2010 folgte. Das Irgendlink-Blog als Larven-Stadium des Radlantixblogs? Im Irgendlink-Blog verweben sich der Alltag eines Gefangenen der Pandemie, der nicht reisen darf mit den Erinnerungen an vergangene Reisen und dem Unvorstellbaren, das gerade in der Welt stattfindet. Quer durch Frankreich über den Mont Lozère und die Pyrenäen führt der Weg phantastisch mit Ausflügen ans Nordkap und nach Gibraltar, nach Island und nach Irland, Ausflüge in ein längst zerronnenes Künstler- und Schreiberleben, alles verzeichnet in dieser Karte mit orangenen Markern für die einzelnen Blogeinträge. Die Spur der Einträge verdichtet sich in Katalonien. Folgt nun einer klaren Linie ohne Ausflüge in die weite Welt. In kontinuierlichen Etappen von 70 Kilometern tönt das Blog mit täglichen Blogbeiträgen, in denen die Hinweise darauf, dass alles nur fingiert ist von Tag zu Tag weniger werden. Die Erste Reise hat sich verpuppt. Am Atlantik angelangt, verlässt das Insekt den Kokon und existiert fortan, als habe es die vorangegangenen Stadien nie gegeben. Mit Radlantix, diesem Blog ist mir aus Versehen das gelungen, was ich schon immer einmal ausprobieren wollte: eine Reise zu reisen, die niemals stattgefunden hat. In Echtzeit in Blogform.
Was hat denn gestern nicht stattgefunden? Nun, von Guenrouet folge ich dem Radweg entlang des Kanals via Redon. Kanalradeln ist Meditation. Oder Selbsthypnose. Es gäbe viel zu erzählen vom gestrigen Reisetag. Ich bin jedoch nicht in der Laune. Nach knapp 70 Kilometern quartiere ich mich auf dem Campingplatz in Malestroit ein. Maestroit sich an wie Guenrouet. Als habe es den Reisetag nie gegeben. Ich weiß, ich tue den beiden Orten unrecht. Auch das Städhcen Redon wäre erwähnenswert mit seiner Kanalkreuzung. Der Nantes Brest-Kanal quert den Fluss Vilaine. Assoziation: Digoin an der Loire. Auch dort gibt es eine spektakuläre Kanalkreuzung. Eine Kanalbrücke gar.
Es macht mich nicht glücklich, dem Ende der Reisde entgegen zu sehen. Ich habe ein paar Überlegungen, wie es weiter gehen könnte: Die Vélodyssée wie einst geplant zu Ende Reisen und von Roscoff via Paris nach Hause radeln, würde 14 weitere Tage bringen. Und am Ende stünde doch nur das Ende. Es böte sich aber auch an, dem Atlantikradweg nordwärts zu folgen. Auch diese Variante hätte irgendwann ein Ende, ich schätze, in ein zwei Monaten stünde ich am Nordkap. Einfach aufhören wäre auch möglich.
Oder … kann es eine zweite Metamorphose geben? Gibt es dafür Vorlagen in der Natur? Diese Option hatte ich im Irgendlink-Blog schon angesprochen: Ausstieg aus dem Ich-Getue des Reisendenblogs und in die Rolle eines fiktiven Protagonisten schlüpfen, der fortan eine völlig andere Geschichte schreibt. Ich halte das nicht für eine gute Idee. Wenn, dann nur im Stillschweigen, sozusagen als echter Autor, der schreibt wie alle anderen es tun, daheim im stillen Kämmerlein ohne groß ins Blog hinauszuposaunen: Hallo, heute, hier, in Camping zwei Schnecken.
Und Nebel und Tristesse. Und Endzeit. Und die blanke Angst davor, dass es endet wie so ein Menschenleben nach sechzig siebzig achtzig Jahren.
Dein Sterbebett ist ein garstiger Hafen in der bretonischen See. Eines Tages wirst du auf der Klippe sitzen und wissen, es ist so weit. In dir kollabiert ein Universum und du tust deinen letzten Atemzug. Das Licht geht aus. Nichts wird dann je existiert haben. Nicht für dich.
Was für ein persönliche Dystopie, was für ein grandioses Gewebe aus Gedanken!