Vom Campingplatz in Maiestroit führte die gestrige Etappe stets am Kanal Nantes-Brest. Wie ist das Land? Flach. Unterstreich’s mit einer schneidenden Handbewegung der flachen Hand wie einst Obelix in ‚Asterix bei den Schweizern‘. Wie ist das Land? Flach! Der kräftige Gallier verschlief die gesamte Strecke durch Helvetien und wurde von seinem treuen Freund an einem Seil auf einem Schlitten über Berg und Tal gezogen. Somit konnte er keine Aussage über das bereiste Land machen.
Gut, dass der Herr Irgendlink, moi même, sich höchst persönlich entlang des Kanalidylls nordwestwärts schuftet und mit Fug und Recht behaupten kann, das Land sei flach. 🙂
Die Schleusen liegen weit auseinander. Dem Fluss L’Oust folge ich über Le Roc-Saint-André, Josselin und Rohan bis Pontivy über schlängelnde, milde Kanalradwege. Vorbei an Fischteichen und ab-und-zuen Schleusen. Viele Angler an diesem hohen französischen (eigentlich weltweiten) Feiertag. Der 8. Mai 1945. Fast jede Stadt hat eine Straße dieses Namens. So auch das Städtchen Montaigu in der Vendé, wo einst mein ältester Freund wohnte. In der Straße des 8. Mai. Mann, Mann, Mann, was haben wir alles erlebt, wir per Erbe verkriegten Menschen, nicht nur in Deutschland und Frankreich, nicht nur in Europa, nein, weltweit. Mein Freund Steph und ich sind eigentlich ein Sinnbild der Versöhnung … nein, Versöhnung ist das falsche Wort, vielleicht sollte ich Enterbung sagen. Unsere unbedarfte Begegnung als Kinder ohne Vorlast. Das muss ich unseren Eltern hoch anrechnen, sie haben uns nie anmerken lassen, dass unsere Nationen einmal verfeindet waren. Solche Dinge wie Vorurteile und abfällige Bemerkungen über die andere Nation, die sich beim heimischen Kaffeekränzchen in Form von Witzen Raum schaffen mit dem anschließenden Vermerk, der Krieg ist lange vorbei (das ist er nicht bei derlei Kaffeekränzchen).
Steph und ich waren Feriennachbarn in einem kleinen Dorf in der Nordpfalz, wo seine Großeltern wohnten, die er in den langen französischen Sommerferien immer besuchte. Wir lernten uns kennen von Kind zu Kind und nicht von Mensch mit vererbtem Konflikt zu Mensch mit vererbtem Konflikt. Das ist ein Segen. So geschieht Heilung. Heilung, die nur über mehrere Generationen geschehen kann, vermute ich.
Manchmal wünsche ich mir meine Kindheitsunbeschwertheit zurück, dieses unbeschriebene Blatt ohne Wissen um all das Übel dieser Welt, das die Vorfahren angerichtet haben und die Vorfahren der Vorfahren und so weiter und so fort bis in alle Ewigkeit aller Vergangenheiten auf allen Planeten des Universums, auf denen auch nur irgendwas lebt und kraucht und denkt und Anderes bekämpft.
Man müsste eine Fotoserie machen hier am Kanal: Angler hockend vor Rute nebst Schirm, Rücken zum Fotografen. Die Stoik der Lauer vor sich lichtendem Nebel, der auf dem ruhigen Fluss und seinen kanalisierten Abschnitten schlingert.
Flusswechsel in Pontivy. Eine recht große Stadt. Der Oust mündet hier in den Blavet und der Kanal folgt dem Blavet nun aufwärts, nordwärts. In Pontivy löst sich gerade der feiertagliche Flohmarkt auf. Ich pausiere neben der Markthalle auf einem Mäuerchen, esse ein Stück Pizza, das ich in einer Boulangerie ergattert habe. Dazu Trinkjoghurt. Die Oberschenkel brennen. Viel zu schnell war ich unterwegs. Manchmal kann einen solch ein kanalisiserter Schönteer- Radweg wie in eine Trance versetzen und dann merkt man nicht, dass man müde wird, die Muskeln schmerzen, der Unterzucker von Innen heraus einen zu übermannen versucht. Erst, wenn es schon fast zu spät ist und man vom Rad zu fallen droht, kommt die Erschöpfung. Rasanter Schnitt mit 22 km/h, muss ich sagen.
Eine alte Frau spricht mich an. Woher, wohin und schon ergreift sie meine Hand. Zu spät begreife ich, dass sie mir hier einen Dienst erweisen will, die Zukunft aus der Hand lesen. In krudem Französisch oder Dialekt oder einem Sprachenmix redet sie, schaut abwechselnd auf die Hand, dann in den Himmel, Blick zur Sonne. Soweit ich verstehe, wird es düster und ich solle vorsichtig sein. Ein unheimlicher Moment, ich muss schon sagen. Aber hey, was erzählt man einem offenbar fremden, relativ zerlumpten Gegenüber, das nicht aus der Gegend kommt, ziemlich einsam wirkt und ein bisschen verloren auf einem sich auflösenden Flohmarkt picknickt? Man warnt ihn vor der Fremde, gibt ihm den Rat, gut auf sich aufzupassen, deutet verschwörerisch aufs Radel und zischt plötzlich, fast täuschend echt, als würde ein Reifen platzen.
Wieviele Legenden sind in dieser Gegend ansiedeln! Mit den nächtlichen Nebeln, die sich erstgegen Mittag auflösen, gibt es einen guten Nährboden, so rein von der Atmosphäre her, für Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Am Morgen war ich gar nicht weit weg vom Forêt de Brocéliande, in dem der Zauberer Merlin einst von Nimue, der Königin des Wassers, gebannt wurde. Seine Liebe war so groß, dass er den Bann freiwillig hin nahm, obwohl er ohne Weiteres den Bann hätte lösen können. Mit Merlin sind auch unweigerlich die Artussage und die Ritter der Tafelrunde in dem geheimnisvollen Wald verortet. Zahlreiche Dolmen und Steinkreise untermalen die Mystik der Gegend. Das womöglich nie Sattgefundene ist in Form der Legenden, Überlieferungen und zahlreichen Erzählvarianten noch immer lebendig und es lässt sich kaum klären, welche Teile der Geschichte tatsächlich passiert sind und welche sich als Phantasmen in die Realität geschlichen haben. Eigentlich verhält es sich mit dieser meiner Reise ja so ähnlich, denke ich.
Wenn du diesen Text liest, wirst du nicht wissen, ob sich diese Vélodyssée tatsächlich so ereignet hat, wie ich es hier beschreibe, ja, selbst ich, der ich diese Zeilen gerade schreibe, kann schon kaum noch erkennen, was wahr war und was nicht.
Meine gütige, unheimliche Handleserin dreht mir die Hand hin und her, will die andere Hand auch sehen und ich habe ein bisschen Sorge, dass sie mir nur in die Taschen greifen möchte, um mich zu beklauen, aber das Radlerhemd hat keine Taschen. Es ist das letzte Hemd des Überlebenden sozusagen. Also spiele ich das Spiel mit. An den Altersflecken ergötzt sie sich und erzählt mir die Geschichte von der ewigen Jugend, die einst den Menschen dieser Gegend gegeben war. Niemand alterte. Die jungen Leute lebten ein glückliches Leben ohne Krankheit und Gebrechen. Es muss das reine Paradies gewesen sein. Die Augen meiner Wahrsagerin beginnen zu leuchten, als sie mir die Bilder der Glücklichen malt, doch was wäre das Glück ohne das Unglück, das es bedroht. Die Jugend ohne das Altern, das sich irgendwann doch noch anschleicht, versteckt im Nebel. Hüte dich vor dem Nebel, sagt sie, er lässt dich altern. Wie auch die jungen Leute der Gegend, die ihr Glück einbüßten, als der Nebel übers Land kam. Niemand war dem gefeit. Wenn der Nebel kam, alterte man über Nacht. Nur ein einziger Ort bot Schutz: die Grotte de la jeunesse éternelle, die Höhle der ewigen Jugend. Dort versteckten sich die Menschen in den Nächten und in den tristen Wintermonaten. Ein Loch in der Höhle, durch das die Sonne fallen konnte, wenn der Nebel sich lichtete, diente ihnen als Indikator, ob sie es wagen konnten, ihr Gefängnis zu verlassen. Die Grotte de la jeunesse éternelle sei gar nicht weit entfernt, erklärt mir die Frau, beim Croix du Breuil. „Folge dem Weg dahin, bleib jung, Junge“, gibt sie mir mit und lässt die Hände los und verschwindet wie eine weibliche Catweazle, ohne auch nur einen Euro von mir verlangt zu haben.
Ich bin ja eine treue Seele und tue nicht nur immer das, was mir die Wanderwegeschilder sagen, sei der Weg auch noch so gewunden, beschwerlich, umwegig, ich tue auch immer das, was mir fremde, mystische Weiber auf 8. Mai-Märkten sagen, bemühe also die Landkarte im GPS. Das Croix du Breuil gibt es tatsächlich. Es liegt im Fôret de Quénécan, gar nicht weit abseits vom Kanalradweg.
Es ist schon fast 18 Uhr, als ich in der Nähe eines Weilers namens Boloré den Kanalweg verlasse und über schmale Sträßchen westwärts auf den Wald zu kurbele. Flaches Landwirtschaftsland. Kein Campingplatz verzeichnet. Ab und zu eine Gîte, aber ich will ja Höhle gucken, nur so aus Neugier und vielleicht befindet sich davor ja auch ein Picknick-Platz und eine Hütte. Die Wucht, die ich erwarte, mit der mich die Mystik des Waldes trifft, bleibt aus. Plötzlich eben ein Waldrand vor sanft steigendem Gelände, durchwachsen von Felsen. Wahrscheinlich verdankt der Fôret de Quénéca sein Überleben schlicht den vielen Felsen, die es unwirtschaftlich machten, ihn in Ackerland zu verwandeln, wie den Rest der Umgebung. Tatsächlich ist ein Chemin du Croix du Breuil ausgeschildert. Ich folge gelb-roten Wegmarkieren über einen gut fahrbaren Forstweg. Alter Laubwald. Spitze, greifende Äste wie Hexenfinger ragen in die teils hohlen Wegpassagen. Altes Laub. Dämmerung. Eine Meisterleistung selbst inszenierter Tourdramatik, muss ich mir eingestehen und es wird mir denn doch ein bisschen mulmig.
Wenn ich nur an die Romane von Fred Vargas denke, die genau solche Gegenden beschreibt und mit blutigen Serienmorden garniert. Die Abenddämmerung tut ihr Übriges. Geschmack von Feuchte und Dampf. Was ist das? Kommt da Nebel auf? Ein Teil in mir will umkehren und mich in einer Gîte einquartieren. Der Naseweis in mir aber drängt weiter weiter weiter, wenigstens bis zum Croix, bis zur Höhle der ewigen Jugend, so es sie denn gibt. Etwa anderthalb Kilometer windet sich der Waldweg bis zu dem Kreuz, das auf dem höchsten Punkt auf Felsen in den Himmel ragt. Eine kleine Lichtung. Eine Felsplatte. Keine Höhle in Sicht.
Müde bin ich, liege eine Weile auf den noch warmen Felsplatten. Schließlich baue ich das Zelt auf neben einer Felswand unweit des Kreuzes. Der übehängende Fels ist mir Andeutung von Höhle genug und es wird schon nicht so schlimm werden, hoffe ich. Es gab unheimlichere Lagerplätze und eigentlich ist es ganz schön hier und was kann mir schon anderes passieren, als morgen aufzuwachen und wieder einen Tag älter zu sein?
Boah, ein Cliffhanger vom
feinsten. 🙈
„Das womöglich nie Stattgefundene ist in Form der Legenden, Überlieferungen und zahlreichen Erzählvarianten noch immer lebendig und es lässt sich kaum klären, welche Teile der Geschichte tatsächlich passiert sind und welche sich als Phantasmen in die Realität geschlichen haben.“
Ein Satz zum Meißeln in alle Wände all jener, die mit Geschichte(n) zu tun haben: die Erleber, die Darüberschreiber, die Schreiber, Lektoren, Verleger, Drucker, Leser, die Daranfesthalter u.v.m. … Einer, den ich mir merken werde.