Reisewarnungen per Kommentarstrang. Ich betreibe mein eigenes kleines, Auswärtiges Amt. Im Dialog des Blogs kamen schon immer hilfreiche Tipps, manchmal zu spät, weil der zwar langsam, aber unaufhaltsam Reisende schon am Ankerpunkt des Tipps vorbei geradelt war. Dann findet man im Zeitdokument, das ein Blog wie dieses darstellt, nur einen Hinweis für die Nachfolgenden.
„Hüte Dich vor Ankou“, dem Tod. Als Skelett oder zerfledderter Geist treibt er sich durch die windumzausten Hohlwege der Bretagne, sagt die Legende und wem er begegnet, den nimmt er mit. Der Ankou ist der personifizierte Tod.
Eine Unaufhaltsamkeitsmaschine; der Atem der Lokomotive nach Jethro Tull; Throwing Time Away, wie es uns Pere Ubu in Wasted besingt; nimm es wie du willst, am Ende wird immer zu wenig Zeit sein und du kannst nur noch zuschauen, wie sich Ereignis auf Ereignis legt, schneller und schneller und schneller, während du träge, stoisch, versuchst deinen mühlenhaften Rhythmus aufrecht zu erhalten – warum? – weil dein Inneres es dir gebietet, weil du nicht anders kannst, weil das das Leben ist. Das Leben folgt immer einem Takt und wohl dem, dem es gelingt, zu Lebzeiten den Takt zu erkennen und seinen Schwingungen zu folgen. Es nennt sich Harmonie. Friede. Einswerden.
Vielleicht ist das etwas gefühlsduselig?
Ich verlasse Huelgoat über die Rue Géneral-de-Gaulle westwärts, aufwärts, aufwärts, aufwärts, könnte man meinen, ist aber nicht so. Die Gegend ist im Prinzip flach. Ich weiß jedoch, dass hier einst ein gigantisches Gebirge gewesen sein muss. Das Armorikanische Massiv. Kaum eine halbe Milliarde Jahre ist das her. Nun durchradele ich Felder und ab-und-zue Wäldchen, passiere einsame Gehöfte und zerfallende, bruchsteinerne Etwasse. Die Wolken hängen tief. Grauschwarze, fette Luftmassen treiben vor mir her. Der Wind, aus Nordosten ausnahmsweise, statt gegen mich, starkt auf. Keine Ahnung, ob ich aufwärts radele. Ich fliege nur so dahin. Kein Gepäck am Rad. Das Zelt bleibt heute auf dem Campingplatz Huelgoat und ich ruhe mich ein wenig aus und da ich wundernasig bin, was die vielen Kirchen und die tausend Zusatzheiligen betrifft, von denen mein Blogkollege Herr Ackerbau in diesem Bericht (dringende Leseempfehlung, viele Bilder) schreibt, steuere ich ein paar der Orte an, die er erwähnt. La Martyre ist mein Ziel, dreißig Kilometer in Richtung Brest und am Nachmittag werde ich mir eine Pizza zum Zeltplatz bestellen und eine Flasche Rotwein. So mein Plan, doch es kommt anders.
In seinem Blogartikel schreibt Herr Ackerbau über die vielen in Stein gemeißelten Figuren und oft bizarren, Rätsel aufgebenden, Darstellungen an den mächtigen Gemäuern der Kirchen. Es ist köstlich zu lesen, und ich glaube, ja, Herr Ackerbau hat recht, wenn er sagt, die Geschichte der bretonischen Kirchenkunst muss wohl neu geschrieben werden.
Das Verrinnen der Zeit kennt immer einen Rhythmus. Nur selten erkennt man ihn. Und vielleicht ist das dann der personifizierte Tod, den man im Mittelalter noch gerne als schlichtes, furchteinflößendes Skelett darstellte. Heuer ist er abstrakter geworden. Unser Gespür für ihn ist feiner, aber vielleicht täuscht mich das und es ist ja sowieso immer mit Argwohn zu betrachten, was an Überliefertem vorliegt, denn es kann immer nur die Spitze eines Eisbergs an tatsächlich Gewesenem sein. Nicht Verwitterbares wie der Granit, aus dem die bizarren Kirchen dieser Gegend gemacht sind. Und in diesem Granit die Botschaften derer, die dafür bezahlt haben, was dargestellt und somit überliefert wird. Jaja, auf humorige Weise zeigt der Artikel von Herrn Ackerbau, wie sehr die Überlieferung abhängt von den Geschmäcken ihrer Auftraggeber.
Zum Glück oder zum Leidwesen können wir den Ankou auch ohne Überlieferung erkennen und ihm begegnen, jeder auf seine Weise.
Zehn Uhr früh, Rheinhessen, südlich von Mainz irgendwo, leichter Nieselregen, ein Tag im März 2017. Die Richtung der Reise ist ganz klar vorgegeben, südwärts auf der Rheinland-Pfalz-Radroute immer am Rhein entlang. Nur noch drei Tage bis nach Hause und ich werde mein erstes Projekt der Blogserie #UmsLand vollendet haben. Das Telefon klingelt. Die Schwester. Der Vater liege im Sterben. Zack. Der Ankou steht vor mir in Form eines schlichten Telefonanrufs. Mehr noch, er setzt sich zu mir in den Sattel. Radelt mit mir. Ich trete mächtig rein auf den feinen, nassen, von Weinbergslehm verschmutzten Radwegen, weiß nicht, was mich geritten hat, aber zurück nach Mainz will ich nicht, um mich dort in den Zug zu setzen und nach Hause zu fahren, peile stattdessen Ludwigshafen an, von wo eine direkte Linie bis in die Saarpfalz führt und überhaupt, ich muss die Botschaft erst einmal sacken lassen. Rheinland-Pfalt-Takt. Stündliche Linien von Wo nach Wo. Der Atem der Lokomotive. Ich eine Maschine. Nichts denkt mehr. Nichts fühlt. Der Ankou unsichtbar irgendwo auf dem Gepäckträger. Eine Last? Nein, keine Last. Was da ist ist immer schon da, war immer schon schwer, war niemals weg, auch wenn man es vergisst oder verdrängt.
Salz auf den Lippen. Ich befinde mich auf einem Zipfel im Atlantik. Der Col de Trévezel mit seinen 344 Metern Höhe ist eigentlich kein richtiger Gebirgspass. Gerade mal 25 Kilometer entfernt vom Atlantik, der den Fetzen Land rings um die Großstadt Brest umtost, hat man aber einen wunderbaren Blick nach Westen. Wenn es denn die Bewölkung zulässt. Gegen Mittag lässt der Regen nach und ich pausiere vor der Kirche von Commana, dann weiter bis zur Eglise Saint Mélar in Locmélar, pausiere vor der knallroten Pforte, spüre, dass mit dem Wind etwas nicht stimmt, bloß was? Egal, ich schmatze ein Éclair und nehme einen Coffee to go, den ich im örtlichen Café ergattert habe. Die Darstellungen an den bretonischen Kirchen sind tatsächlich bizarr. Man kann sie lesen wie ein Buch. Nicht etwa ein normal verständliches Buch der Trivialliteratur, natürlich, eher so etwas wie Naked Lunch, eben etwas, was man nur erkennen kann, wenn man nicht versucht, es zu verstehen und sich dadurch unter Druck setzt und genau das Gegenteil erreicht.
Der heilige Melorius, dem die Kirche (vermutlich) geweiht ist, gehört mehr der frommen Sage, denn der Geschichte an. Eine der Statuen in der Kirche zeigt jedenfalls den heiligen Melar, dessen schreckliches Schicksal mich berührt: Man hatte ihm die rechte Hand und den linken Fuß amputiert und so musste er sein Leben in einem Kloster fristen, immerhin mit silbernen Prothesen bestückt.
Vom personifizierten Tod über geschundene Heilige durch prächtige Kirchbauten und verwunschene bretonische Orte führt meine, eigentlich als Ruhetag geplante Radeltour und erst spät wird mir bewusst, was mit diesem Tag nicht stimmt: alles geht zu leicht und das liegt nicht am Gepäck. In La Martyre, dem eigentlich geplanten Umkehrpunkt erkenne ich endlich: Ich habe Rückenwind. Ach was, Rückensturm! La Martyre hält eine weitere grausame Heiligengeschichte der nie enden wollenden bretonischen Legenden bereit, die ich hier ausspare. Vielmehr muss ich gerade ans Nordkap denken und jenen Tag, an dem ich mir sagte, am Abend werde ich in Olderfjord übernachten. Die Stadt Havoysund verlassend, scheinbar gemütliche 70 Kilometer Fjordstraße vor mir, doch die erste Biegung um eine Bergkuppe zeigte, das wird nichts, knallharter Gegenwind, achwas, Sturm. Zwei Tage kroch ich im ersten bis dritten Gang durch Gegend ohne Orte.
So auch hier. Zwar sind die Orte hier dicht gesät, aber ich brauche es gar nicht versuchen, mich gegen den Wind zu stemmen. Der Rückweg geriete zum Martyrium.
Was bleibt dem modernen Radreiseheiligen? Sich freikaufen! Im Dorf die Leute fragen, ob es Unterkünfte gibt, eine Auberge? Hotel? Bed and Breakfast? Nichts. Den Zug nehmen? Es gibt eine Bahnverbindung von Brest nach Morlaix. Trotzdem müsste ich noch zwanzig Kilometer quer zum Wind radeln bis Huelgoat.
Schon sehe ich mich schlotternd im Windfang der Kirche frösteln oder über die garstig windumtoste Landstraße bei bissigem Nieselregen mit Schrittgeschwindigkeit hinaufkeuchen zum Col de Trévezel. Luftlinie nur zwanzig Kilometer.
Halb sechs. Die Wetterapp sagt Regen, Windgeschwindigkeit 51 km/h, Nordost bis Ost. Der Totengräber des Dorfes auf dem Weg in den Feierabend gibt mir schließlich einen entscheidenden Tipp: Im Nachbardorf in La-Roche-Maurice gibt es Zimmer. Eine Auberge in einer Mühle, die seiner Schwägerin gehört und schon zückt er das Handy und ruft für mich an und ja, sie habe etwas frei. Ein Engel im Gewand des Begräbnismeisters, fünf Kilometer und praller Wind, der mich vor sich hertreibt. Der Ankou vielleicht in Gestalt von Wind. Unsichtbare Kraft, die dir die Chance nimmt zur Umkehr, aber hatte denn je ein Mensch die Chance der Umkehr auf seinem Weg durchs Leben?
Nachtrag 23. 5. 2020 – ursprünglicher Titel (und Thema) ‚Diesseits und jenseits der Monts d’Arrée‘. (Ein Hinweis, eine Idee, die Gegend irgendwann einmal in ‚echt‘ zu schauen.