Ein multidimensionaler Raum der Gehörigkeit | #radlantix

Strukturen soweit das Auge reicht. Waren es am Vortag eher groß gefasste, landwirtschaftliche Strukturen, so durchquere ich nun ’natürlich‘ gewachsene kleinere Flächengliederungen, die nicht unbedingt geeignet sind für eine industrielle Landwirtschaft. So zumindest mein oberflächlicher Eindruck. Hier eine Hecke, dort ein Zaun, da ein alter Grenzstein. Straße, Kanal, Entwässerungsgraben, touristisches Schild, Welterbe-Region, eine Biosphäre und plötzlich, eine andere Gegend … dazwischen hart arbeitende Menschen in ‚ihren‘ Traktoren auf ‚ihren‘ Feldern. Zugehörigkeiten allüberall und Grenzen zwischen den Zugehörgkeiten. Die Grenze zwischen Aldi Nord und Aldi Süd kommt mir in den Sinn. Territoriale Aufteilung von Konsumentinnen und Konsumenten zwischen den Besitzansprüchen von Konzernen. Und zwischen den Territorien und Einflusssphären gibt es Verbindungslinien. Das Leben des Freien ist ein filigraner Tanz von Zugehörigkeit zu Zugehörigkeit auf diesen Linien. Das muss man übergreifend, nicht nur räumlich sehen.

Ein multidimensionaler Raum der Gehörigkeit umgibt mich. Mehr oder weniger frei kann ich mich zwischen den Sphären bewegen. Unbemerkt und unbehelligt hangele ich mich von Grundstücksgrenze zu Grundstücksgrenze, von Gemeindegrenze zu Gemeindegrenze, überquere Arrondissementsgrenzen und Departementsgrenzen und Regionsgrenzen, ja, sogar die Staatsgrenzen von Deutschland nach Frankreich, von Frankreich nach Andorra, von Andorra nach Spanien, von Spanien nach Frankreich konnte ich ohne Probleme überqueren, bewegte mich in den letzten fast sieben Wochen dabei meist ‚legal‘, von einem übergeordneten Recht gedeckt, auf öffentlichen Straßen, zeltete wild auf öffentlichem Grund oder in gefühltem Niemandsland. Ich kaufte mich frei auf Campingplätzen und in Hotels. Ich erbettelte mir treuagenblickend, gestikulierend Nachtplätze auf privaten Grundstücken, neben Fincas oder am Fuße von Brachen, die vermutlich niemandem gehörten oder auf die niemand großen Besitzanspruch erhebt. Ich lagerte im Maul eines künstlich bewässerten Pacman-Feldes und kauerte ungemütlich im vom Salz des Ozeans umspülten Gezeitenland am garstigen Gemäuer einer Gezeiteninsel bis die Flut mich mitten in der Nacht wieder frei gab.

Nenne die Namen der Departements an Frankreichs Atlantikküste von Süden nach Norden! Pynenées Atlantique, Landes, Gironde, öhm …, Charante? nein, falsch, da muss was mit Ozean rein. Am Atlantik ist es immer gut, was mit Meer in den Namen zu packen, um Missverständnisse auszuräumen. Die Charante, namentlich nach dem Fluss benannt, endet irgendwo vorm Ozean und am Ozean heißt das Departement Charante Maritime. Vendée. Ja genau, seit ich das Gebiet der Gemeinde Marans (da wo meine Hühner herkommen, die Schokoleger) verlassen habe, befinde ich mich im Departement Vendée.

Der Vélodyssée ist das im Prinzip egal. Unaufhaltsam schlängelt sich der Atlantikradweg entlang des Ozeans Küste. Oder soll ich vielleicht besser sagen, dem EV1 ist es egal. Staaten übergreifend schlängelt sich der viele tausend Kilometer lange Radweg von Portugal über Spanien und Frankreich Irland, England und Norwegen … sagen wir besser, es ist erst einmal eine Idee von Radweg. Die aber im französischen Abschnitt mit der Vélodyssée schon ziemlich konkret ist.

Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich diese Reise machen kann. Noch vor wenigen Jahren hätte ich mindestens drei Mal eine harte Grenze mit Zollkontrollen und Beargwöhnung überqueren müssen, noch vor wenigen Hundert Jahren wäre es vermutlich ein elender Hickhack im Gewirre einzelner Fürstentümer gewesen und noch viel Früher würde ich vielleicht gar nicht mehr leben, weil mich Straßenräuber ausgeplündert und ermordet hätten oder mindestens hätte ich an jeder kleinen zieseligen Grenze zwischen zwei Niedrigadelgemengseln eine Maut bezahlen müssen oder einen Passierschein mit wächsernem Siegel vorweisen.

Marschland. Kleine Gräben. Küstenwälder. Sumpf und das, was davon übrig ist. Menschgebändigtes Land. Nutzland. Und immer wieder Besitzansprüche und Interessensphären. Vermarktungsrichtlinien. Das Nutzvieh Mensch in Form von Touristen.

Geradezu grotesk wirkt die Strandpromenade von Les Sables d’Olonne. Das Städtchen in der südlichen Vendée ist Frankreichs zweitgrößter Badeort. Nach Nizza? Ich kann zum größten Badeort Frankreichs nichts recherchieren. Es spielt auch keine Rolle. Die ‚Sande‘ von Olonne, ’ses Architectures‘: Betonklötze dominieren das Strandbild. Terrassenbauten, Balkonanlagen, Strandblick. Eine gut vermietbare Masse an Ferienwohnungen und Hotels reiht sich an der Strandpromenade und erst bei genauem Hinschauen erkennt man das alte Flair der Küste mit einzelnen, wunderschönen, aber im Vergleich zu den Betonwuchten winzig wirkenden Strandvillen. Verschnörkelte Etwase von Häusern mit Seele und Tradition, die auch in England an der Küste stehen könnten oder jugendstilisch irgendwo an der Ostsee.

Ein Spießrutenlauf über die Strandpromenade radelnd an diesem feinen gestrigen Sonnentag. 1. Mai. Arbeiterklasse. Stummer Schrei nach Luft. Protest? Jein. Noch geht es vielen zu gut. Noch brennt der Mitte nicht der Kittel. Die Gelben Westen stehen irgendwo im Landesinnern auf Verkehrskreiseln. Vielleicht.

Zwischen Flaneurinnen und Flaneuren, MountainbikerInnen, FatbikerInnen, Sonnenschirm- und  Picknickkorbschleppenden, und einigen wenigen anderen Vélodyssée-Heldinnen und Helden komme ich mir vor wie Wurstmasse, die von einer gigantischen Maschine in einen Kunstdarm gepresst wird. Die Vélodysséeleute, die man an ihren stark beladenen Reiserädern erkennt, kommen mir meist entgegen. Ich fahre zweifellos die falsche Richtung, nehme an Gegenwind auch mit, was das Land zu bieten hat. Dennoch, so ist das nunmal: Man kann sich die Richtung, in die man unterwegs ist nicht mehr aussuchen, wenn man erst einmal gestartet ist und schon 45 Tage in den Beinen hat. Gegen Ende einer Reise nehmen die Wahlmöglichkeiten ab. Und irgendwann wird dir gewahr, dass die Rückkehr dein Ziel ist und dass im Ende mit etwas Glück schließlich ein neuer Anfang liegt.

Klaus und Antje erlebten die Velodyssée im Jahr 2017 an dieser Etappe rings um Les Sables d’Olonne wie hier beschrieben. Dem schließe ich mich an. Wohl wissend, dass das Bild immer erst dann komplett ist, wenn man einen Weg in beide Richtung erkundet hat (träum‘ weiter, das Bild eines Weges ist nie komplett. Die ganze Wahrheit wird nicht du, nicht jener oder jene, noch sonst ein Mensch je erkennen. Wir alle sind nur Momente des Denkens und Erlebens in ihrer jeweiligen Zeit auf ihrer jeweiligen Richtung. Zu Absoluten und unumstößlichen Erkenntnissen wird es nie reichen, das wäre einfach zu göttlich).

Ein bisschen schlecht wird mir, als ich bei meinen Les Sables d’Olonne-Recherchen mich von Wikipediaartikel zu Wikipediaartikel hangele und bei den berühmten Söhnen und Töchtern der Stadt auf Francois l’Olonnais stoße. Einen Piraten des 17. Jahrhunderts. Ach was, ein sadistischer, psychotischer Krimineller, der viele normale kleine Menschen geplündert, gequält und ermordet hat, der die Spanische Krone das Fürchten lehrte, ganze Städte in Geiselhaft nahm, Geld erpresste und mit mächtigen Priatentruppen über ein Jahrzehnt lang die Karibik terrorisierte. Eine andere Zeit … im Prinzip hat sich der Zustand der Welt gebessert, aber er ist lange nicht ideal. Mein Gemüt sucht Erholung von dem was ich las über den Piraten, die längst vergangene Zeit. Ich zähle die Gräben am Radweg, die Brücken, die vielen kleinen Schleusen, durch die man Wasser mal nach hier, mal nach da leitet bis hinein in einen wunderbaren Küstenwald, was mich die Gedanken verlieren lässt. Geschmack von Pinien liegt in der Luft, gemischt mit Salz und garniert mit ab und zuen Brackwasserdüften. Das ist mir gerade recht. Ich bin wikitraumatisiert. Ich weiß zu viel. Ich habe mir ein Bild zu viel gemacht. Ich will es löschen durch stures, autistsiches Handeln.

Müde bin ich. Bald siebzig Kilometer in den Beinen und ich brauche Ruhe nach der gestrigen Nacht neben der Müllkippe. Eine kleine Dosis Menschen, ein Restaurant, ein nicht allzuvoller Campingplatz und eine schöne heiße Dusche.

Wie bestellt liegt da der Camping des Dunes direkt am Radweg. Jenseits von Jard-sur-Mer. Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen, nur um der Illusion von Sicherheit und Freiheit willen.

Der gestrige Artikel erscheint erst nachträglich.

 

Entthalassoisierung des Hirns durch Gegenwind | #radlantix

Lasst uns einen Ausflug machen nach Mannheim. Dem Mannheim des Jahres 2003, soweit ich mich erinnere. Dem Mannheim des ersten brutal heißen und unendlich trockenen Sommers in der Pfalz, an den ich mich erinnere. Auf der Rheinbrücke steht in diesem Jahr und vermutlich auch in den Jahren davor und danach in großen krageligen Graffiti-Lettern geschrieben: Beton ist gut. Beton ist schön. Beton ist lieb. Wenn man in der richtigen Richtung radelt und das Graffiti in der Reihenfolge liest wie ich es hier im Blogartikel wiedergebe, kann man sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn man beim fast kindlichen Beton ist lieb angelangt ist.

Beton ist ein Baustoff, der als Dispersion unter Zugabe von Flüssigkeit aus einem Bindemittel und Zuschlagstoffen angemischt wird. Der ausgehärtete Beton wird in manchen Zusammenhängen auch als Kunststein bezeichnet.

Der Reisende, der sich täglich kurbelnd auf dem Fahrrad durch fremde Gegenden bewegt und darüber nachdenkt, also über die Gegenden und über sich selbst und über seine Art sich fortzubewegen und über alles, was aktuell um ihn herum passiert, ist ein Denkstoff, der als Lebewesen unter Zugabe von Flüssigkeit aus einem Assoziationsmittel und Nährstoffen angemischt wird. Der zu Ende gedacht habende Reisende wird in manchen Zusammenhängen auch als Künstler bezeichnet.

Die Luft schmeckt nach Salz. Trüber Morgen. Schwere Luft presst den Lärm der N11 und La Rochelles zum morgendlichen Campingplatz. Unterm Geklapper des Alugeschirrs meiner Platznachbarn erwache ich, frühstücke, schreibe ein paar Zeilen über den Ausflug zur Île de Ré. Mein Nahbunker-Erlebnis mit Ausflug zu den beiden Leuchttürmen.

Ich übersehe dabei die Feinstofflichkeit allen Seins, wird mir jetzt klar. Vielleicht musste ich erst die gestrige Etappe absolvieren entlang der schnurgeraden Kanäle bis Marans und ab dort westwärts bis in einen wilden Wald zwischen Sand und Land, um mir bewusst zu werden, wie sehr ich selbst aus Sand und Wind und Meersalz und und was weiß ich noch allem bestehe. Der Vélodyssée-Radweg führt ab La Rochelle etwa zehn Kilometer weit schnurgerade nordwärts fast immer einem alten Kanal folgend, der sich hin und wieder tief ins Land eingräbt. Der Canal de Marans a La Rochelle wurde, soweit ich es in Erfahrung bringen kann, niemals in Betrieb genommen. Strafgefangene mussten ihn einst bauen und als der Kanal Mitte des 19ten Jahrhunderts endlich fertig war, war er schon überaltet, wurde quasi obsoletisiert von der neuen Technik der Eisenbahnen. Heute dient er als Touristen-Wasserstraße. Kajaks und Hausboote und eben wir Velodyssisten, die auf den alten Treidelpfaden über die ohnehin mit nur vier Schleusen auskommende Strecke dahin driften.

Es ist mitunter recht eintönig, schnurgerade auf einem Kanalradweg zu radeln. Eigentlich gibt es sonst nichts zu tun, als aufzupassen, dass man nicht vom Weg abkommt und über die Kanten gewellter Stahlrammen ins Kanalbett fällt. Mit etwas Übung, denke ich, könnte man den Radweg auch mit geschlossenen Augen radeln. So übernimmt meine Phantasie das Regime und denkt sich in die Position eines imaginären Forschers, der diesen Flecken Erde unters Mikroskop genommen hat. Und das, was auf seinem Glas liegt stellt sich ihm als eine unstrukturierte Sammlung von Molekülen dar: Salzwasser mit Sand und Teer und Menschmolekülen gemischt. Also beobachtet er eine Masse und kommt nicht auf die Idee, dass sich manche der Moleküle, die er im Fokus hat, in Form eines Körpers, eines Lebewesens, in Form von mir, zusammengefunden haben und so vor sich hin denken und sich ihn vorstellen.

Vielleicht waren es die Thalasso-Hotels und der Bunker namens Blockhaus, auf der Ré, die mein Hirn zu einem derart gewagten Ausbruch brachten, zu dieser Suggerierung, alles sei eins und alles hänge zusammen.

Thalassa (altgriechisch-dorischer Dialekt und neugriechisch Θάλασσα Thalassa; altgriechisch-attischer Dialekt Θάλαττα Thalatta „Meer“) ist in der griechischen Mythologie die Verkörperung des Meeres.

Sagt Wikipedia.

Thalasso (abgeleitet von altgriechisch θάλασσα thálassa ‚Meer‘) bezeichnet die Behandlung von Krankheiten mit kaltem oder erwärmtem Meerwasser, Meeresluft, Sonne, Algen, Schlick und Sand.

Sagt Wikipedia auch. Mische Mensch mit Wasser, Sand, Schlick und Algen et voila, Heilung? Heiße Spur. Nützt mir nur nichts. Bringt mich nur auf dumme Gedanken. Ich sei ein Sandkorn, das riecht und schwitzt und ab und zu einen Blogartikel schreibt. Trotzdem, der Gedanke mit dem Schlick, den Algen und den aus dem Meerschaum geborenen Heilkräften, der gefällt mir.

Ab Marans zweigt ein weiterer Kanal streng nach Westen ab. Keine Ahnung wie er heißt. Der Radweg folgt treu den Treidelpfaden.  Ich kämpfe gegen den Wind, der mich nun frontal trifft, vergesse meine Feinstoff-Phantasien wieder. Entthalassoisierung des Hirns durch Gegenwind. Es ist manchmal gut, auf Widerstände zu treffen. Das lenkt ein bisschen ab, holt den Geist in die Körperlichkeit zurück. Auch meinen phantastischen überdimensionalen Forscher vergesse ich, wie er mich als Brei im Brei beobachtet, nichtsahnend, forschend …

Lasst uns einen Ausflug machen nach Selvik. Das ist eine kleine Meeresbucht unweit des Nordkaps. Dort hatte ich ein Gegenwinderlebnis, das mich vom Gefühl her sehr an dieses Marans westwärts erinnert. Nachhaltiger. Ausgesetzter. Hilfloser. Für eine Strecke, die ich eigentlich in einem Radeltag zurücklegen wollte, brauchte ich zwei Radeltage. In Selvik gibt es eine Betonskulptur oder nennen wir es besser, einen künstlerisch gestalteten Picknickplatz, der aus Beton gebaut wurde.

Das gesamte Bauwerk wurde in Ortbetonbauweise unter Zugabe von Gesteinskörnungen aus der Region errichtet. Seine zur Landschaft passende hellgraue Betonfarbe beruht auf der Beimischung von Titanoxid als Weißpigment. Sämtliche Oberflächen zeigen die Abdrücke der verwendeten, saugenden Holzschalungen. Durch die präzise Platzierung der 35 Millimeter dicken Bretter mit trapezförmigen Profilen ließen sich die Fugen auf eine minimale Breite reduzieren. Als Schalung für die runden Gucklöcher dienten handelsübliche Industrierohre mit unterschiedlichen Querschnitten.

Selvik, Mannheim, Beton, Sand, Feinste Stoffe, Algen, Aerosole, Luft, und ein denkender Mensch und das ganze schön gemischt und neu konfiguriert, dann noch ein paar Finger und ein bisschen guten Willen und schon kann man daraus prima einen Blogartikel schustern.

Nun, da ich dies schreibe, bin ich nicht so ganz überzeugt. Ich sitze im Zelt in einem aufgelassenen Grundstück unweit der örtlichen Décheterie. Das ist so eine Art Wertstoffhof, auf dem man aber auch Restmüll abgeben kann. Gerade wird der Glascontainer abgeholt. Vom Atlantik getragenes Geräusch geborstenen geschmolzenen Sands. Der Nachtplatz war brilliant. Einem Impuls folgend bog ich abends von der Vélodyssée-Route ab und folgte den Décheterie-Schildern. Irgendwo neben dem Zaun würde sich etwas finden lassen, so dachte ich. Guter Instinkt. Jahrelange Wildzeltplatzsucherfahrung geballt in einem Sandkorn von Mensch, das sich durch einen Gigantismus von Universum bewegt.

Mein überdimensionaler Molekülebeobachter wäre sicher hocherfreut, wenn er beobachten würde, wie sich eine nicht unbeträchtliche Ansammlung von Molekülen (ich, das Radel und das Zelt) untrennbar in eine ganz bestimmte Richtung bewegen würden. Eine geheimnisvolle  Anomalie im Amorph seiner Petrischale.