Wässriges Land auf Meeresniveau. Wenn sich denn so etwas wie ein Meeresniveau überhaupt definieren lässt hier im Bereich der Tide. Der Wasserspiegel schwankt um mehrere Meter. Je nachdem, ob die Küste von Inseln kanalisiert wird oder nicht, ob ein Fluss in den Ozean drängt oder ob das Wasser auf langem Strand genügend Auslauf hat. Abwechslungsreich gestaltet sich die Küste, unberechenbar.
Die vorige Nacht stand das Zelt nicht sehr weit weg vom Flugzeug. Der Campingplatz in Saint-Michel-Chef-Chef ist, wie sein Beiname, ‚Insolite‘, sagt, ziemlich ungewöhnlich. Neben dem normalen Angebot kleiner Bungalows und stationärer Wohnwagen gibt es auch einige Besonderheiten, die man eher als Ausstellungsstücke in einem Technikmuseum vermuten würde, denn als Behausungen für Touristen auf einem atlantischen Campingplatz. Besagter Flieger hat vier Schlafplätze und eine winzige Küche im abgeschnittenen, vorderen Teil eines Verkehrsflugzeugs. Die Flügel sind nicht installiert. Das Klo des ‚Avion Grumann‘ befindet sich in der Pilotenkanzel. Man kann, statt lesend oder sonstwie sich die Zeit auf dem Örtchen verduldend, durchs Cockpitfenster schauen und mit den original Steuerknüppeln spielen und alle möglichen, zwar blindgelegten, aber dennoch betätigbaren Schalter bewegen.
Es gibt Seilbahngondeln auf dem Platz und Westernwagen und es gibt einen 50 Tonnen schweren Bahnwagon. Den hat der Besitzer des Platzes vor Jahren aus Paris hierher transportieren lassen und selbst liebevoll renoviert. Der Wagon ist groß genug, dass eine halbe Schulklasse darin wohnen kann. Oder eine viertel.
Weiterhin Windstille, was mich fast ein bisschen traurig stimmt, denn am gestrigen Tag radele ich vorwiegend ostwärts. Erst durch Saint-Michel-Chef-Chef (bester Ortsname ever; eigentlich kann man ihn gar nicht oft genug schreiben :-)) bis zum Schlund der Loire und schließlich flussaufwärts bis zur Brücke bei Nantes. Das wäre bei der üblichen Westwindlage eine wunderbare Rückenwindrutsche geworden.
Die zehn Kilometer bis zum Fluss, bis zur hohen Brücke bei Saint Nazaire fresse ich wie nix und stehe gegen halb elf an der Mündung. Aufkommende Flut. Brillianter Blick auf die geschwungene, hohe Autobahnbrücke. Am Strand verläuft sich das Publikum. Es ist kein expliziter Wohlfühlbadestrand hier in der Mündungsregion. Ein bisschen fühle ich mich an die Gegend bei der Rheinmündung in Hoek van Holland erinnert. Industrie im Duett mit Naturidyll, Dünen und Sandstrand, das ganze umspielt vom Malmen der See. Und: eine gigantische Schlange glänzt im Watt. Oder vielmehr ein Skelett. Oder noch besser gesagt ein Kunstwerk aus Aluminium, das sich da schlängelt. Ein bisschen erinnert es an das Bild eines alten chinesischen Drachens. Kein Wunder, denn der Künstler, Huang Yong Ping, hat chinesische Wurzeln. 2012 schuf er das fast achtzig Meter lange Monstrum im Rahmen eines Kunstfestivals. Hier an der Loire-Mündung werden regelmäßig neue Großplastiken installiert. Ganz ähnlich wie das Kunstfestival in Örebro, das ich gemeinsam mit Frau SoSo 2015 besuchte. Es ist schon faszinierend, wenn das Ungewöhnliche Einlass findet in die Normalität des Alltagsgeschäfts. Wenn der Blick verwirrt wird, die Augen abgelenkt, das Hirn sich mit Abstrusem beschäftigen darf, statt den Ozeanriesen beim Vorbeifahren zuzusehen oder den Frachtschiffen auf dem Weg in den Loire-Schlund. Oder im Fall von Örebro, damals: Der arglose Stadtwanderer steht verdutzt vor allmöglichen kreativen Leckerbissen, die sich vom Rathaus durch die Fußgängerzone bis in den Wassergraben vor dem Schloss ziehen. Herrlich die fliegenden Fahrräder auf dem Kanal, die wie Teufelsradeler wirkten mit dämonischen Radlerpuppen. Und die Rubberduck aus alten Autoreifen, die noch immer in irgendeinem Brunnen Örebros vor sich hin quietscheentet.
Nicht, dass es nicht auch ohne Kunst ginge. Schifffahrt ist grundsätzlich spannend. Und Stadtlandschaft ist dem Konsumwilligen stets Labsal.
Gen Nantes zu auf verkehrsarmen Wegen radelt man unter Hochspannungsleitungen vorbei an Umspannwerken, aber es gibt auch wunderbare Naturgegenden. Flussauen und Felder im Wechsel. Aber mehr und mehr wuchert die Stadt.
Nantes ist eine der zehn größten Agglomerationen Frankreichs. Eine knappe halbe Million Menschen lebt um die Flussmündung der Loire und des Erdre rings um Nantes und Saint Nazaire. Das heißt: viel Verkehr, Bahnlinien, Trams, Busse und irgendwo in den Nischen der Mobilität auch ein Fetzen Vélodyssée. Feinstes Engelshaar der Mobilität. Unauffällig. Der Radweg ist, nunja, passabel, würde ich sagen. Fast fühle ich mich an die nahezu perfekt beschilderte Durchquerung der Stadt Valence auf der Via Rhôna erinnert. Ca slame pour moi. Teils auf Straßen, oft abseits ihrer und wenn man sich konzentriert und keines der Schilder übersieht, kommt man ohne Karte rein in die Stadt. Ob man ebenso leicht wieder rauskommt, werde ich noch sehen.
Ich mietete mich auf dem örtlichen Campingplatz ein, fast mitten in der Stadt. Erdnahes Dasein hat mich wieder. Zeltend. Bodennah. Nur eine zwei Zentimeter dicke Isomatte trennt mich von der abgenutzten Platzwiese. 25 Euro pro Nacht. Nicht gerade billig, aber hey, vielleicht bleibe ich heute hier. Sitze vorm Zelt, schreibe diese Zeilen und erinnere mich an meine Recherche für die Vélodyssée im Jahr 2017. Das Jahr, in dem ich eigentlich hätte starten wollen, wenn mein Vater nicht im Sterben gelegen hätte. Mann, Mann, Mann, lange Zeit. Ich hatte, glaube ich, die Gegend der Bretagne grob im Web durchgeschaut und mir allmögliche Sehenswürdigkeiten markiert, Wikipediaartikel und Googlemaps-Einträge von Kommerziellem. Informationen, die aber im Chaos der eigenen Festplatte verloren gegangen sind. In diesem Blog finde ich noch eine Notiz zu einem sogenannten Wackelstein, der eine knappe Woche weiter nordwärts auf mich zukommt. Und über das Nantes des Jahres 2017 weiß ich, dass es irgendwo in der Stadt eine Art Vergnügungspark geben muss, in dem mechanische Zootiere herumlaufen. Ein riesiger Elefant aus Stahl und Zahnrädern und Gelenken, auf dem man als zahlender Tourist Platz nehmen kann … geradezu unheimlich, dieses Bild aus meiner Erinnerung zu kramen. Ich sollte mich auf die Suche nach dem Tier machen. Der Campingplatz ist nicht so voll und für einen Stadtcamping ziemlich ruhig. Ich brauche Ruhe. Stillstand. Ich bin müde. Unendlich müde. Ich habe den Kreis geschlossen heute. Von der Loire zur Loire radelnd. Ich könnte die Tour auch beenden … nachdenken, Junge, nachdenken … und die Stadt nach mechanischen Elefanten durchsuchen!
Du könntest die Tour jederzeit und überall beenden. Du musst überhaupt nichts.
Erhol dich. Lass dir Zeit.
(Wie schön, dass du mich eben nach Örebro geschickt hast!)